Der kälteste Ort der Welt

Von Monika Seynsche · 21.07.2013
Am 21. Juli 1983 zeigte das Thermometer der Antarktisstation Wostok minus 89,2 Grad Celsius an. Minusgrade sind dort nicht ungewöhnlich, das aber ist ein Rekord. Bis heute hat man auf der Erde keine niedrigere Temperatur gemessen.
Der Tag verlief wie jeder andere im antarktischen Winter der sowjetischen Wostokstation: Einer der Männer stapfte hinaus in den Schnee, las das Thermometer ab und verschwand wieder in dem flachen, hellblau angestrichenen Wohncontainer.

"Heute sind alle Stationen mit Displays ausgerüstet, auf denen Sie ganz bequem sehen können, wie kalt es gerade ist. Aber damals gab es so was natürlich noch nicht. Die Thermometer hingen draußen und jemand musste regelmäßig hinausgehen, um sie abzulesen, auch mitten im Winter, in der nur durch Sterne und Nordlichter erhellten Dunkelheit."

Deswegen sei den Männern anfangs auch nicht aufgefallen, dass die Temperatur an jenem Tag stärker gesunken war als jemals zuvor, erzählt der Geophysiker Vladimir Papitashvili von der US-amerikanischen National Science Foundation in Washington. Wintertemperaturen zwischen minus 70 und minus 80 Grad Celsius sind nichts Ungewöhnliches für diese Region der Antarktis. Am 21.7.1983 aber zeigten die Thermometer der Station minus 89,2 Grad.

Die Station Wostok liegt mehr als 1000 Kilometer von der Küste des Südpolarmeers entfernt auf dem antarktischen Hochplateau. Selbst im Sommer steigen die Temperaturen hier kaum über minus 30 Grad Celsius. Vladimir Papitashvili besuchte die Station ein paar Monate nach dem Temperaturrekord:

"”Man muss sehr vorsichtig sein. Sie dürfen keine Türgriffe oder anderen Metalloberflächen mit bloßen Händen berühren, sonst würden Sie augenblicklich festfrieren. Wenn die Temperaturen unter minus 60, minus 65 Grad Celsius fallen, wird es richtig gefährlich, denn dann kühlt der Körper extrem schnell aus. Sie brauchen immer eine Schutzbrille und müssen Ihr restliches Gesicht mit einem Schal oder einer Sturmhaube bedecken und einen Teil der warmen Atemluft wieder einatmen.""

Die Station besteht aus nichts weiter als zwei containerförmigen Gebäuden, einem kleinen Kraftwerk und einigen Schuppen inmitten tausender Quadratkilometer Eiswüste. Einmal im Jahr kämpft sich ein Konvoi von Kettenfahrzeugen von der Küste aus landeinwärts, um Wostok mit Lebensmitteln, Ersatzteilen, Baumaterial und vor allem Dieselöl für die Generatoren zu versorgen. Zwei Wochen lang sind die Fahrzeuge Tag und Nacht unterwegs.

Die Sowjets errichteten die Forschungsstation 1957 in der Nähe des magnetischen Südpols, um Veränderungen des Erdmagnetfelds zu untersuchen. Sie liegt fast 3500 Meter über dem Meeresspiegel. Die große Höhe und ihre Lage mitten auf dem Eispanzer lassen die Temperaturen fallen. Dazu kommt die komplette Dunkelheit, die hier von Mitte April bis Mitte August herrscht. In keiner anderen Region der Welt ist es so kalt wie auf dem antarktischen Hochplateau. Bis heute hält die Station Wostok den offiziellen Kälterekord. Allerdings sind in den vergangenen Jahren neue Forschungsstationen noch weiter oben auf dem Plateau entstanden. Von daher ist es wahrscheinlich, dass Wostok den Titel als kältester Ort der Welt bald wird abgeben müssen. Die Gegend ist nicht nur ausgesprochen kalt, sie ist auch extrem trocken.

"Also ab sag ich mal minus 30 Grad ist kaum noch Wasser in der Atmosphäre und dadurch ist die Luft sehr klar und man hat einen sehr klaren Himmel, im Sommer dann sehr blau, im Winter hingegen ist es in der Antarktis halt dunkel und dadurch sieht man einen unglaublich schönen Sternenhimmel, dadurch dass die Luft eben kaum noch Wasser enthält."

Holger Schmithüsen vom Alfred Wegener Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven hat diesen Sternenhimmel bei seiner eigenen Antarktisüberwinterung viele Male gesehen. Unter dem Sternenhimmel und mehr als drei Kilometern Eis verbirgt sich an der Wostokstation darüber hinaus eines der größten Geheimnisse der Geowissenschaften: der Wostoksee. Eine seit mindestens zehn Millionen Jahren vom Rest der Welt isolierte Süßwasserlinse. Um sie zu erforschen, haben russische Wissenschaftler fast zwanzig Jahre lang von der Eisoberfläche aus in die Tiefe gebohrt. Anfang 2012 dann war die Wasseroberfläche erreicht. Noch ist nicht bekannt, welche Geheimnisse der See unter dem Eis birgt. Sicher aber ist, dass er ohne die der Kälte und Höhe trotzenden Wissenschaftler und Techniker der Station Wostok nie hätte erforscht werden können.