Der jüdische Eruv

Was die Schnur an Manhattans Straßenlaternen bedeutet

Straße in Manhattan, durch die Luft gespannt und an einer Laterne befestigt ist ein dünner Nylonfaden.
Schwer zu sehen, aber sehr wichtig für orthodoxe Juden in Manhattan: Der Eruv, ein Nylonfaden, der von Straßenlaterne zu Straßenlaterne gespannt ist. © Kai Clement
Von Kai Clement · 21.10.2017
Der Eruv spannt sich in einem Teil Manhattans von Laternenmast zu Laternenmast. Der Nylonfaden ist fast unsichtbar und erleichtert doch das Leben vieler orthodoxer Juden, die hier leben. Korrespondent Kai Clement war bei der wöchentlichen Kontrolle dabei.
Eine Verabredung wie in einem Krimi. Ort: Eine Straßenecke an Manhattans 2nd Avenue zwischen den Vereinten Nationen und dem Chrysler Building. Zeit: zwei Stunden vor Sonnenaufgang, im Stockdunkeln. Wie in jedem guten Krimi, geht es erst einmal um den Inhalt des Kofferraums.
45 Kilogramm kann die Leine tragen, die auf eine Spule aufgewickelt im Kofferraum liegt. Dieser Nylonfaden, eine Angelschnur, ersetzt im Gewimmel der Großstadt, was früher Mauern waren, Zäune. Ein Faden, der von Laternenmast zu Laternenmast gespannt fast unsichtbar weite Teile Manhattans umrahmt.
Ist die Linie ungebrochen, dann steht der so genannte Eruv. Steht der Eruv, dann können orthodoxe Juden in diesem Gebiet auch am Sabbat Dinge mit sich tragen, was - eigentlich - an diesem arbeitsfreien Ruhetag verboten ist.
Ob der Eruv steht, muss Woche für Woche aufs Neue geprüft werden. Los geht es in einem in die Jahre gekommenen Toyota.

Der wohl Komplizierteste der Welt

Rabbi Tauber ist früh aufgestanden an diesem Donnerstag. Um viertel nach 3. Wie jeden Donnerstag seit bald 20 Jahren. Dann ist er aus Monsey, einem vor allem jüdisch-orthodoxen Ort im Norden New Yorks, nach Manhattan gefahren. Nun dauert es drei bis vier Stunden, den Eruv abzufahren.
Tauber fährt im Morgengrauen, denn wenn erst einmal der Berufsverkehr über Manhattan herein bricht, würde seine Inspektion noch viel länger dauern. Ewig, schmunzelt er. Immer wieder späht er aus seinem geöffneten Seitenfenster, den Blick nach oben gerichtet. Jetzt, wo der Faden das Licht der Straßenlaternen einfängt, sieht man ihn etwas besser als am helllichten Tag.
Vollbremsung an der 26. Straße. An einem Baugerüst endet die luftige Bahn der Schnur, Reste liegen auf dem Boden. Vielleicht waren Bauarbeiter schuld. Es ist schon das zweite Loch im Eruv, das Tauber auf seiner Fahrt entdeckt. So ist es immer im geschäftigen Manhattan, dem deshalb wohl kompliziertesten Eruv der Welt.
Am Freitag wird die Reparatur-Crew mit Tauber zusammen die Löcher beseitigen: "Die Regel lautet: Ein Jude darf am Sabbat auf einem öffentlichen Platz keine Gegenstände tragen. Aber im privaten Raum ist es sehr wohl erlaubt. Also im Haus oder im Garten. Indem ein Gebiet umschlossen wird, wird es symbolisch vom öffentlichen zum privaten Raum. Das geht 2000 Jahre zurück. Es waren Rabbis, die die Idee aufbrachten, ein Gebiet zu umgrenzen - zunächst mit Mauern oder Zäunen."
Adam Mintz, der mit seiner Frisur und markanten Brille ein wenig an einen jungen Woody Allen erinnert, empfängt in seiner weitläufigen Wohnung auf New Yorks Upper West Side. Als Präsident des Eruvs ist er so zu sagen sein oberster Wächter. Das Geld für die Instandhaltung zahlen Synagogen und Spender - über 100.000 Dollar im Jahr. Ganz schön teuer, sagt Adam Mintz.

Ein Eruv aus Laserstrahlen?

In den 70er Jahren waren es vielleicht zehn, seitdem ist die Zahl der Eruvs allein in Nordamerika auf rund 200 explodiert. Manhattans Eruv entstand in den 60er Jahren. Auch auf Drängen jüdischer Frauen, die sonst nicht mit Kinderwagen vor die Tür hätten gehen dürfen. Eine Jahrtausende alte Tradition - symbolisch übertragen in das Getöse der Millionenstadt: "Vor 5 Jahren hat ein Künstler die Idee eines von Laserstrahlen markierten Eruvs vorgestellt. Aber gemäß jüdischem Gesetz sind wir noch nicht so weit."
New Yorks sogenannter "Magic Schlepping Circle" - der 'magische Schlepp-Bereich‘: ist er nicht schlicht wie andere Eruvs auch eine Regel, um eine andere Regel zu umgehen: nämlich die, nichts tragen zu dürfen?
"Aber so funktionieren doch Gesetze. Man nennt das eine Hintertür. In manchen Kulturen ist das ein negatives Wort. Aber so funktionieren doch alle Systeme. Zum Beispiel die Steuer - ab und an gibt es ein Schlupfloch. Dann kann man - ganz legal - sein Geld anlegen und zahlt keine Steuern darauf. Hier geht es um ein Eruv-Schlupfloch."
Rabbi Moshe Tauber wird am Ende seiner Tour wieder an Synagogen in Manhattan mailen können: Der Eruv steht. Nur einmal überhaupt sei er bislang in seiner langen Geschichte nicht rechtzeitig bis zum Sabbat zu reparieren gewesen. Und nein, das war nicht beim Supersturm Sandy, auch nicht bei 9/11: "Es war ein großer Schneesturm am Freitagmorgen. Diese Art von nassem Schnee, der an der Schnur klebt und sie mit seinem Gewicht herunterzieht."
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