"Der Glücksspielstaatsvertrag regelt ja nicht alle Glücksspiele"

Tilman Becker im Gespräch mit Joachim Scholl |
Der Leiter der Forschungsstelle Glücksspiel an der Universität Hohenheim, Tilman Becker, kritisiert, dass die Zuständigkeiten für die einzelnen Glücksspielarten zwischen Bund und Ländern aufgeteilt sind. Der Staat müsse den gesamten Glücksspielbereich "kohärent und konsistent" regeln, sagte Becker.
Joachim Scholl: Im September hat der Europäische Gerichtshof das deutsche staatliche Glücksspielmonopol für unvereinbar mit europäischem Recht erklärt, weil dieses Monopol die Spielsucht, die damit eingedämmt werden sollte, nicht wirksam bekämpfe. Die privaten Anbieter von Sportwetten und Lotto finden dieses Urteil selbstredend prima.

Morgen tagen nun die Ministerpräsidenten auf ihrer Jahreskonferenz auch zu diesem Thema, um einen neuen Staatsvertrag auszuhandeln. Am Telefon begrüße ich jetzt Professor Tilman Becker, er ist Leiter der Forschungsstelle Glücksspiel an der Universität Hohenheim. Guten Tag, Herr Becker!

Tilman Becker: Guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: In Deutschland war Glücksspiel lange Zeit unter staatlicher Kontrolle auch gerade mit dem Argument, der Spielsuchtgefährdung entgegenzuwirken. Hat der alte Staatsvertrag das denn geleistet?

Becker: Ja, das kann man schon sagen. Wir haben ja verschiedene Bereiche, man muss da unterscheiden: Wir haben ja den Bereich der Lotterien, der ist im Staatsvertrag geregelt; dann haben wir den Bereich der Spielbankenspiele, die sind zum Teil im Staatsvertrag und zum Teil in den Spielbankengesetzen der Länder geregelt; dann haben wir die Sportwetten, die sind im Glücksspielstaatsvertrag geregelt und im Rennwett- und Lotteriegesetz von 1922; und dann haben wir das Automatenspiel, das ist in der Spieleverordnung geregelt.

Das heißt, der Glücksspielstaatsvertrag regelt ja nicht alle Glücksspiele, sondern nur einen Teil, und das ist auch das große Problem. Er hat einiges geleistet, man kann nicht sagen, der Glücksspielstaatsvertrag, sondern das staatliche Monopol bei Lotterien besteht ja seit mehreren Jahrzehnten. Es hat dazu geführt, dass wir bei Lotto relativ ungefährliche Spiele haben ohne ein Betrugspotenzial. Wir haben zweimal in der Woche die klassische Lotterie, es wären ganz andere Lotterien vorstellbar, die im Sekundentakt laufen und die hoch suchtgefährdend sind.

In Florida beispielsweise gibt es ein erhebliches Problem mit der Lottosucht. So etwas haben wir in Deutschland nicht, weil wir halt die Lotterien, die seit Jahrzehnten von staatlicher Seite angeboten werden, relativ harmlos sind, und wir haben auch dort eigentlich kein Betrugspotenzial. Das heißt, diese Harmlosigkeit ist letztendlich auf das staatliche Monopol zurückzuführen, nicht auf den Glücksspielstaatsvertrag, sondern das staatliche Monopol, was ja seit 50, 60 Jahren besteht.

Scholl: Bei den jüngsten Debatten ging es nun hauptsächlich um Lotto und Sportwetten. Nun haben sich schon etliche Experten zu Wort gemeldet und in vielen Medien gesagt, Lotto sei nicht das Problem. Herr Becker, Sie haben das auch oftmals bestätigt, davon wird man kaum süchtig, also bei uns zumindest nicht, das Problem seien die Automaten. Da hört man aber kaum etwas von der Politik, oder?

Becker: Ja, das ist das Problem, dass der Glücksspielbereich sehr inkonsistent geregelt ist. Ich hatte ja schon gesagt, es gibt verschiedene Gesetzeswerke, die die verschiedenen Glücksspielformen regeln. Es gibt außerdem noch verschiedene Zuständigkeiten, die Länder sind für den Glücksspielstaatsvertrag zuständig, und der Bund ist für das Automatenspiel – oder war es früher, vor der Föderalismusreform –, für das Automatenspiel zuständig. Und da liegt genau das Problem: Wenn es wirklich dem Staat um die Bekämpfung der Sucht geht, dann muss er natürlich sich der Spielautomaten annehmen.

Etwa 80 Prozent aller pathologischen Spieler, die sich in Therapie begeben, sind spielautomatensüchtig, in den Spielhallen. Dieser Bereich wird aber bisher vom Bund geregelt, und der Bund hat bisher noch nichts unternommen, obwohl im Glücksspielstaatsvertrag die Länder ihn dazu aufgefordert haben. Mittlerweile hätten aber auch die Länder aufgrund der Föderalismusreform die Möglichkeit, etwas gegen die Spielhallen zu unternehmen, aber Sie müssen sehen, die Lobby der Spielhallen ist sehr stark und Politik macht nicht immer die Sachen, die aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll sind, sondern richtet sich auch nach dem Kräfteverhältnis in unserer Gesellschaft.

Scholl: Vor zwei Jahren verwies die Politik ganz stolz darauf, das jetzt in allen staatlichen Kasinos Ausweispflicht bestünde, auch in den Automatensälen, um wegen Spielsucht gesperrten Spielern den Besuch dort zu verwehren. Gleichzeitig schießen jetzt diese Spielhallen regelrecht aus dem Boden. Also wenn ich bei mir in meinem Viertel zähle, dann sehe ich alle 200 Meter eine Spielhalle, sogar in den Kneipen stehen plötzlich reihenweise Automaten. Das sind nicht mehr die ollen Rotamint Goldenen Sonnen, sondern computergesteuerte Hightech-Dinger mit allem Schnickschnack! Hat man da nicht gewusst, was man tat?

Becker: Das will ich nicht der Politik unterstellen, dass sie nicht gewusst hat, was man tat. Aber das Problem ist halt, dass wir ... Jetzt aus der suchtpräventiven Sicht ist das Problem, dass wir eine Spielersperre haben bei dem Automatenspiel in Spielkasinos – was natürlich sehr vernünftig ist, das heißt ein Spieler, der nicht mehr das Spielen im Griff hat, kann sich dort sperren lassen, kann sagen, gut, heute habe ich einen wachen Moment, heute möchte ich mich sperren lassen, und dann, wenn ich morgen wieder schwach werde, dann werde ich nicht eingelassen. Er kann aber gleichzeitig um die Ecke in die Spielhalle gehen, und er kann sich dort nicht sperren lassen. Und das ist natürlich aus suchtpräventiver Sucht unsinnig. Das ist etwa so, wie wenn jemand sich beim Einkaufen für Whisky sperren lassen kann, das heißt im Laden kriegt er keinen Whisky mehr, aber den Wodka und den Gin, den darf er weiterhin ungehemmt kaufen. Das geht natürlich in die Leere, das ist, aus suchtpräventiver Sicht ist das einfach Unsinn, muss man ganz deutlich sagen.

Scholl: Der Staat und das Glücksspiel, wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Tilman Becker von der Forschungsstelle Glücksspiel an der Universität Hohenheim. Warum wird man denn von diesen Automaten anscheinend so schnell und so sehr süchtig?

Becker: Einmal sind sie an jeder Ecke verfügbar, das heißt sie stellen ein sehr viel größeres Problem dar als die Spielautomaten in Spielbanken – die vom Suchtpotenzial her genau so gefährlich sind, aber die ja nur an wenigen Stellen angeboten werden, da muss der Spieler eine lange Anreise unternehmen, um dort hinzukommen.

Dagegen die Spielautomaten und Spielhallen sind an jeder Ecke zu finden; dann ist die Ereignisfrequenz sehr hoch, das heißt, die Spielabfolge geht schnell, alle drei Sekunden, vier Sekunden findet ein neues Spiel statt, das ist mit eine der wichtigsten Eigenschaften von Glücksspielen, die süchtig machen; dann besteht eine vermeintliche Kompetenz durch das Drücken von Risikotasten. Es gibt mittlerweile auch sogar ein wissenschaftlich entwickeltes Messinstrument, was das Suchtgefährdungspotenzial von Glücksspielformen messen kann. Und wenn man dieses Messinstrument auf die Spielautomaten anwendet, dann stehen die sozusagen ganz vorne im roten Bereich. Lotto dagegen ist im grünen Bereich.

Scholl: Stichwort Wissenschaft, Herr Becker: Forscher wie Sie sind ja jetzt nicht unbedingt kleine Mäuschen, die zwischendurch mal eine Warnung piepsen. Sie und Kollegen von Ihnen haben sich immer wieder lautstark zu Wort gemeldet und Ihre Forschungsstelle Glücksspiel ist auch kein unbekanntes Institut mehr. Die Suchtverbände haben Alarm geschlagen: 200.000 Menschen in Deutschland gelten mittlerweile als pathologische Spieler. Hat das überhaupt keine Resonanz in der Politik, dass man also sieht, hier ist eigentlich wirklich die Gefahr?

Becker: Die Politik geht leider nicht nach Vernunft und Wissenschaft, sondern sie denkt kurzfristig, sie denkt bis zur nächsten Wahl, und sie macht letztendlich das, wovon sie denkt, dass es akzeptiert ist und Wählerstimmen bringt. Das ist natürlich was anderes als das, was wissenschaftlich vernünftig ist, oder auch, was die Suchtverbände sagen. Im Prinzip wird ja auch schon im Glücksspielstaatsvertrag angemahnt, dass man sich des Bereichs der Spielautomaten annimmt, das war 2006, da haben die Länder das in der Begründung reingeschrieben, dass der Bund sich dieses Bereichs annehmen soll. Jetzt ist 2010, es ist nichts passiert.

Die Politik denkt sehr kurzfristig. 2006 war abzusehen, dass man über unterschiedliche Regulierungskonzepte nachdenken sollte. Das hat die Politik aber sich nicht zu eigen gemacht. Jetzt ist abzusehen, dass man darüber nachdenken sollte, wie eine zentrale Regulierungsbehörde aussehen sollte. Da ist auch abzusehen – und das haben die Gespräche leider mit den Politikern gebracht –: Das interessiert nicht! Die Politik interessiert nicht die wissenschaftliche Sichtweise. Die wissenschaftliche Sichtweise denkt weit voraus, versucht objektiv zu sein, versucht wirklich, die Probleme zu erkennen; die Politik versucht nicht, Probleme zu erkennen, sie reagiert kurzfristig auf irgendwelche Meinungsäußerungen in der Presse oder in den Medien. Das ist das Problem.

Scholl: Geht es da wirklich, auch wirklich um die Gesundheit, wenn es in solchen Staatsverträgen steht? Weil man muss sich ja vor Augen halten, wie viel Geld einfach reinkommt auch für den Staat. Die Länder nehmen Millionen ein durchs Glücksspiel, durch Lotto, durch die staatlichen Kasinos, durch die Vergnügungssteuer, die Spielhallenbetreiber zahlen müssen. Geht es am Ende nicht, also doch nicht nur ums Geld?

Becker: Das Geld spielt eine gewichtige Rolle, natürlich. Es sind immerhin in der Größenordnung, allein bei den im Glücksspielstaatsvertrag geregelten Glücksspielen sind es drei bis vier Milliarden jährlich, die die Länder einnehmen. Dazu kommen noch die Einnahmen aus den Spielautomaten, wie Sie richtig gesagt haben. Natürlich spielt das eine wichtige Rolle, aber aus rechtlicher Sicht darf es nur eine Nebenwirkung sein, erfreuliche Nebenwirkung sein, aber nicht der Hauptgrund, um diesen Bereich zu regulieren. Und das muss man wirklich sagen: In den letzten Jahren mit dem neuen Glücksspielstaatsvertrag ist der Schwerpunkt, der hat sich deutlich auf die Sucht verlagert. Das heißt, es wird schon sehr ernst genommen. Es wird in einigen Bereichen zu ernst genommen.

Das heißt, wir haben, bei Lotto haben wir Werbeeinschränkungen, dabei ist Lotto keine Gefahr in der Form, wie es jetzt vom Staat angeboten wird. Und da haben wir erhebliche Werbeeinschränkungen. Bei den gefährlichen Formen des Glücksspiels haben wir geringe Werbeeinschränkungen. Also auch dort stellt der Gesetzgeber die Welt auf den Kopf, das ist das Problem. Und das Problem ist, dass sich niemand konsistent dieses ganzen Bereiches annimmt.

Es ist ja jetzt leider wieder zu erwarten, dass nur irgendwo Flickwerk betrieben wird und nicht der große Wurf gemacht wird, wo man versucht, den ganzen Glücksspielbereich kohärent und konsistent zu regeln. Wie ich ja eingangs gesagt habe: Es gibt Bund- und Länderkompetenzen, es gibt verschiedene Gesetzeswerke, die mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stehen, und der große Wurf wäre, dass man ein kohärente Gesetzeswerk macht für die ... alle Formen des Glücksspiels, und die in einer einzigen Kompetenz regeln würde.

Scholl: Ein neuer Glücksspielstaatsvertrag soll her, doch die Gefahr der Spielsucht wird dadurch kaum vermindert, sagt Tilman Becker von der Forschungsstelle Glücksspiel an der Universität Hohenheim. Ich danke Ihnen, Herr Becker!

Becker: Vielen Dank, Herr Scholl!


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