Der Finger des heiligen Nikolaus

Von Ita Niehaus · 12.04.2008
Wenn man an herausragende Dome und ihre kostbaren Schätze in Deutschland denkt, dann fallen einem als erstes Städte wie Köln und Naumburg ein, nicht aber Halberstadt. Der Halberstädter Domschatz blieb bisher im Verborgenen, war fast nur in Fachkreisen bekannt. Dabei ist er mit rund 650 Kunstwerken der bedeutendste und umfangreichste mittelalterliche Kirchenschatz, der am ursprünglichen Bestimmungsort erhalten geblieben ist.
"Es ist ein fantastisches Kunstwerk. Dargestellt ist die Bewirtung der drei Engel durch Abraham und Sara, also eine Geschichte aus dem Alten Testament, die in großen und majestätischen Figuren und Szenen erzählt wird."

Domkustos Jörg Richter steht begeistert vor einem der Ausstellungshöhepunkte: dem Abraham-Engel-Teppich, einem über zehn Meter langen romanischen Bildteppich, dem ältesten gewirkten Wandbehang in Europa

"Das Faszinierende ist die Qualität der Umsetzung, wie die Geschichte aus dem alten Testament überführt wird in dramatisches Geschehen. Es gibt weit ausholende Gesten, die Figuren kommunizieren rege miteinander, das alles ist von Künstlern im zwölften Jahrhundert sehr überzeugend entwickelt worden."

Der monumentale Wandteppich ist wunderbar erhalten, die Farben leuchten noch genauso intensiv wie vor Jahrhunderten. Er er einmal an den Rückwänden des Chorgestühls im Dom St. Stephanus und St. Sixtus in Halberstadt. Nun ist er im neuen Teppichsaal in der Domklausur zu sehen, also am historischen Ort des ursprünglichen liturgischen Gebrauchs.

"Alles was wir hier haben, ist einmal für den Halberstädter Dom angeschafft, geschenkt, gestiftet worden. Wir haben keine Kunstsammlung wie andere Museen, wir sind also kein Kunstgewerbemuseum, sondern wir verwalten einen Kirchenschatz, der seit über 1000 Jahren hier schrittweise angewachsen ist."

Insgesamt 650 Kunstwerke aus allen mittelalterlichen Kunstgattungen gehören zum Domschatz. Eine überwältigende Fülle von Kostbarkeiten: allein 300 Meisterwerke mittelalterlicher Textilkunst, darunter 90 liturgische Gewänder. Aber auch Gold- und Silberschmiedearbeiten wie die berühmte byzantinische Weihbrotschale, Teppiche, Altarbilder, Elfenbeinschnitzereien und seltene Reliquien.
300 herausragende Exponate werden nun nach umfangreichen Bauarbeiten auf 1000 Quadratmeter Ausstellungsfläche präsentiert.

"Es ist für einen Kunsthistoriker natürlich schon ne tolle Sache, am größten mittelalterlichen Kirchenschatz in Deutschland arbeiten zu können, so einen Kunstschatz neu präsentieren zu können."

Rund sieben Millionen Euro kostet das umfangreiche Projekt der Stiftung "Dome und Schlösser in Sachsen-Anhalt". Viel Arbeit steckt hinter diesen Zahlen – nicht nur für Domkustos Jörg Richter. Auch für die Restauratoren, Architekten und Handwerker.

Die letzten Vorbereitungen laufen auf Hochtouren: Jörg Richter steht zusammen mit Katrin Tille vor einer Vitrine im Teppichsaal und überlegt, wie Besucher durch gezielte Beleuchtung die Beschriftung der alten romanischen Wandteppiche noch besser erkennen können – ein Balanceakt.

"Ich denke, da muss man an die Faserleuchten hier ran ...dürfte jetzt schon reichen. Ich denke, das ist jetzt gut ausgeleuchtet, macht einen guten Eindruck, auch wenn man von weiter weg schaut."

Dr. Katrin Tille ist eine der Mitarbeiterinnen der Stiftung "Dome und Schlösser in Sachsen Anhalt." Sie koordiniert die Restauration des Domschatzes. Eine Aufgabe mit immer wieder neuen Herausforderungen. Am meisten beeindruckte sie, wie die zehn Meter langen alten romanischen Teppiche in die Vitrinen eingebracht wurden: Die Vitrinen wurde quasi um die Teppiche herumgebaut.

"War eben so die Überlegung, kriegen wir das überhaupt hin, geht das, wenn die Objekte schon eingebracht sind, das dann die großen Gläser davor gesetzt werden? Was passiert, wenn eine Scheibe zu Bruch geht? Das waren die Dinge, die uns schlaflose Nächte bereitet haben."

Gute Teamarbeit war von Anfang an gefragt, um die neue Präsentation des Domschatzes vorzubereiten.

"Die erste Frage war, welche Schatzstücke wollen und können wir den Besuchern zeigen, welche Bedingungen erfordert diese Präsentation und wie können wir das mit unseren Mitteln umsetzen?"

Die Präsentation ist ungewöhnlich: Sie orientiert sich an der ursprünglichen liturgischen Nutzung der Schatzstücke im Gottesdienst. So soll die Einheit von Dom und Domschatz für die Besucher erfahrbar werden. Entsprechend strikt ist auch die Raumaufteilung: Im neuen Eingangsgebäude direkt neben dem Dom sind die Werkstättem der Restauratoren, Depots, Domschatzverwaltung und der Besucherempfang. Die Kunstwerke befinden sich in den Räumen der Domklausur.

"Von diesen mittelalterlichen Innenräumen gibt es immer wieder Fensteröffnungen, Blickachsen in die Domkirche hinein, eine Empore im Dom gehört dann auch zum Ausstellungsrundgang. Wir haben immer wieder versucht, Nahtstellen zu schaffen zwischen dem Kirchenraum und den eigentlichen Ausstellungsräumen."

Der Besucher, so Christoph Hackbeil, Superintendent und Pfarrer des Kirchenkreises Halberstadt, wird hineingezogen in die faszinierende Glaubens- und Bilderwelt des Mittelalters.

"Das Spirituelle wird auf eine vorsichtige Weise geweckt: durch die Gestaltung der Räume, aber auch durch den Weg, den man geht. Man wandert so von Raum zu Raum, man hat auch Ruhe und dabei ergibt sich so eine ganze Geschichte, die man erzählen kann. Über den Gottesdienst vergangener Zeit, aber auch über den inneren Weg."

Die ganze Pracht des mittelalterlichen Gottesdienstes entfaltet sich auf diesem Rundgang.

"Er sieht die Schränke, in denen die Gewänder der Priester waren und sieht daneben die Treppe, durch die der Bischof aus seiner Sakristei in den hohen Chor zum Gottesdienst gegangen ist. Und im nächsten Raum sieht man die ganzen Gewänder und kann sich vorstellen, wie reich die gekleidet waren, wie kunstvoll – die Beziehung zum Gottesdienst wird sichtbar."

"Sie können erfahren, warum ein Kirchenraum an hohen Festtagen mit Teppichen über alle Wände hinweg ausgekleidet wird, Sie können etwas erfahren über den Gebrauch von Flügelaltären, also warum beginnt man im zwölften Jahrhundert riesige Aufbauten auf Altären zu erreichten? Sie werden etwas erfahren über Reliquienverehrung, was ist das eigentlich für ein heute befremdlicher Brauch, mit Knochenpartikeln von Heiligen umzugehen in Kirchenräumen?"

Eine umfangreiche Sammlung von Reliquien bildet den Kern des Halberstädter Domschatzes – präsentiert am ursprünglichen Ort: in der mittelalterlichen Schatzkammer. Faszinierende Goldschmiedearbeiten sind darunter. Das große Tafelreliquiar etwa oder das Armreliquiar des Heiligen Nikolaus. Domkustos Jörg Richter:

"Dieses Armreliqiuar hat ein ovales Fenster aus geschliffenen Bergkristall und hinter diesem Bergkristall erkennbar ist ein mumifizierter menschlicher Finger. Die Reliquie, der Legende nach, ist ein Finger des heiligen Nikolaus, der 1205 aus Konstantinopel nach Halberstadt gebracht worden ist."

Reliquien waren damals kostbarer als Gold und Edelsteine. Die Menschen glaubten, dass in den Körperteilen die Kraft der Heiligen weiter wirkt.

"Wallfahrer konnten im wahrsten Sinne des Wortes Hand in Hand in Kontakt mit dem Heiligen kommen. Wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie, die Vergoldung ist abgerieben, man sieht das Silber hindurch, also tatsächlich, die Hand, die Finger , die sind intensiv berührt und geküsst worden."

Ob Reliquiar oder Bildteppich – jedes Kunstwerk ist ein Stück Geschichte. Das Einmalige jedoch am Halberstädter Domschatz: Er blieb fast komplett am ursprünglichen Ort erhalten. Und das ist vor allem einem gemischt konfessionellen Domkapitel zu verdanken, das seit 1591 den Schatz gemeinsam hütete.

"Die Domherren waren protestantisch und katholisch, feierten ein gemeinsames Stundengebet und getrennte Gottesdienste. Diese kirchenrechtliche Regellung hat dazu beigetragen, dass die Ausstattungsstücke aus katholischer Zeit nicht zerstört oder verkauft wurden."

Mehr als fünf Jahre wurde intensiv an der neuen Präsentation des Domschatzes in Halberstadt gearbeitet. Jörg Richter und Katrin Tille sind nun gespannt darauf, ob sich ihre Begeisterung auch auf die Besucher überträgt.

"Zu sehen, die Besucher sind begeistert, lassen sich faszinieren, ein Stück mitreißen, und nehmen für sich ganz persönlich etwas mit. Das ist eigentlich das Beste, was passieren kann."

"Ich bin überzeugt davon, dass sich der Domschatz im öffentlichen Bewusstsein verankern wird und dass man ihn vielleicht gleich hinter dem Kölner Domschatz nennen wird und dass Besucher sich überzeugen lassen, was wir hier zu bieten haben, was bisher im Verborgenen lag."