Der Erfinder des Cyberspace

Von Jochen Meißner · 17.03.2008
Sein erstes Buch veröffentlichte er 1984 und es wurde ein Welterfolg. Mit dem Roman "Neuromancer" heimste der Autor im Alter von 36 Jahren nicht nur fast alle bedeutenden Preise für Science-Fiction-Literatur ein, sondern begründete gleich ein neues Genre: den sogenannten Cyberpunk. Sein Einfluss auf Science-Fiction-Literatur und -Film ist kaum zu überschätzen. Heute wird William Ford Gibson 60 Jahre alt und er wird in die Geschichte eingehen, als der Mann, der den Begriff "Cyberspace" geprägt hat.
Auszug aus "Neuromancer": "Case ist 24 Jahre alt. Mit 22 war er ein Cowboy, ein aktiver gewesen, einer der besten im Sprawl. Mit ständigem Adrenalinüberschuss, einem Nebenprodukt seiner Jugend und seines Könnens, hing er an einem speziellen Cyberspace-Deck, das sein entkörpertes Bewusstsein in die Konsenshalluzination der Matrix projizierte."

"Neuromancer", der Roman um den Hacker Case und die künstlichen Intelligenzen Wintermute und Neuromancer, entstand zu einer Zeit, in der Ridley Scotts "Blade Runner" zum Kultfilm wurde, und er spielt er in einer Zukunft, in der der Himmel die Farbe eines Fernsehers hat, der auf einen toten Kanal eingestellt ist.

Auszug aus "Neuromancer": "Nach einem Jahr hier träumst du immer noch vom Cyberspace. Doch deine Hoffnung schwindet mit jeder Nacht. Alles Speed, das du nimmst, alle Streifzüge durch die Gassen und Winkel von Night-City helfen nichts. Immer noch siehst du im Schlaf die Matrix, helle Gitter der Logik, die sich vor der farblosen Leere entfalten."

Inzwischen ist der Science-Fiction-Autor aus der Zukunft zurückgekehrt. Gibsons neue Romane spielen in der Gegenwart und die hellen Gitter der Logik sind andere geworden. Sie werden von GPS-Satelliten abgestrahlt und teilen die Welt in immer kleinere Quadrate ein.

In Gibson neuestem Roman "Spook Country", der auf Deutsch gerade unter dem Titel "Quellcode" erschienen ist, unterteilt der Techno-Nerd Bobby Chombo sein ständig wechselndes Arbeits- und Wohnloft nach dem GPS-Raster in 2x2 Meter große Quadrate - und schläft nie zwei Nächte hintereinander in derselben Parzelle. Natürlich ist das paranoid. Was sich schon im Vorgängerroman "Pattern Recognition" (auf Deutsch: "Mustererkennung") andeutete, wird in "Spook Country" manifest: Für Gibson ist die Welt nach dem 11. September ein Stück realer geworden und die USA erheblich unheimlicher. Das hat auch Konsequenzen für die Raumordnungen des William Gibson:

"Als ich das Wort 'Cyberspace' prägte, war der Cyberspace dort und alles andere hier. Ich denke, das hat sich im Laufe meines Schreibens umgekehrt. Heute ist der Cyberspace im wahrsten Sinne des Wortes hier."

"Das Recht", sagte der Staatsrechtler Carl Schmitt in den 60er Jahren "ist die Einheit von Ordnung und Ortung". Und im Roman "Quellcode" geht es genau darum, nämlich um die Ortung eines mysteriösen Schiffscontainers, der, wie sich später herausstellt, 100 Millionen Dollar enthält, die korrupte Kriegsgewinnler aus dem Irak abgezweigt haben. Ein mafia-artiger Clan mit kubano-sowjetischem Hintergrund bedient sich des paranoiden GPS-Experten Bobby Chombo, um diesen Container aufzuspüren, das Geld radioaktiv zu markieren und dadurch unbrauchbar zu machen.

Erst wenn Ortung und Ordnung, das heißt der virtuelle Raum des Global Positioning Systems und der reale Raum wieder zur Deckung gebracht worden sind, kann das Recht wiederhergestellt werden. Somit ist der Mafia-Clan überraschenderweise patriotischer als die Profiteure des Krieges, die Gibsons Amerika in ein partiell rechtsfreies "spooky country" verwandeln.

Auch wenn seine Romane politischer geworden sind, so ist Gibsons Stärke immer noch sein visionäres Talent. Den virtuellen Raum des Cyberspace beschrieb er, als das Internet noch ein Mailboxsystem war, in dem man mit Akustikkopplern oder analogen Modems kommunizierte. Im Roman "Pattern Recognition" von 2003 bilden sich Communities um im Internet zirkulierende Filmschnipsel - und zwar bevor es Plattformen wie YouTube gab. In seinem aktuellen Roman beschreibt Gibson eine Kunstform, die so plausibel ist, das man mit ihrer Realisierung rechnen kann: "locative art". Es handelt sich um ortsgebundene, bewegte oder unbewegte Bilder in 3-D, die mittels W-Lan ins Stadtbild projiziert werden.

"'Kartographische Attribute des Unsichtbaren' (Cyberspace-Motiv) sagte sie und stellte den Kaffee ab. 'Räumlich markierte Hypermedia. Der Künstler kommentiert jeden Zentimeter Raum, alles physisch Existierende. Zu sehen für alle, auf Geräten wie diesem.' Sie zeigte auf Albertos Handy, als wäre dessen geschwollener, silberner Klebebandbauch schwanger mit einer ganzen Zukunft."

Der virtuelle Raum überformt den realen mit seiner Datenstruktur, doch erkennen kann man das nur mit einem speziellen Datenhelm oder auf einem Handy mit GPS-Empfänger und Internetzugang. Was es dort zu sehen gibt? Wie in jedem Zwischenreich sind es die Toten: zum Beispiel die Leiche des Schauspielers River Phoenix, die ein Künstler auf den Bürgersteig vor den Club platziert hat, wo er an einem Drogencocktail gestorben ist.

"'Erst kürzlich habe ich ein virtuelles Denkmal für Helmut Newton am Chateau Marmont fertig gestellt'. Er deutete über den Sunset Boulevard. 'Da, wo er seinen tödlichen Unfall hatte, am Ende der Hotelausfahrt.' - 'Und die Leute, die im Marmont wohnen', fragte sie, 'haben keine Ahnung von dem, was du dort gemacht hast?' Genauso wie Fußgänger keine Ahnung hatten, dass sie durch den leblosen River hindurchgingen, auf seinem Gehweg am Sunset."

Die virtuellen Kunstwerke können aber auch simple Grabkreuze für die Opfer des Irakkrieges sein, die sich durch die Landschaft ziehen und deren Zahl anhand einer Opferdatenbank ständig aktualisiert wird. Schon für sich genommen ist das ziemlich "spooky". Der Cyberspace - ein imaginärer Raum, der für eine Zeit lang seinen Ort in der Science-Fiction-Literatur des William Gibson gefunden hat, wird immer realer.