Der dünne Lack der Zivilisation

Von Stefan Osterhaus |
Im Januar tauchte ein Video aus Afghanistan auf, auf dem US-Soldaten zu sehen waren, die auf tote Aufständische urinieren. Neu sind solche Szenen nicht, meint der Berliner Journalist Stefan Osterhaus - doch sie erinnern immer wieder daran, wie dünn der Lack unserer Zivilisation ist.
Vielleicht lohnt es sich, einen Blick in die antike Dichtung zu werfen, um zu verstehen, wo wir angekommen sind. Einen Blick in Homers Ilias, einen Blick auf den Kampf zweier Helden, die die besten Kämpfer ihrer Armeen waren. Es war im zehnten Jahr des Krieges um Troja, als sich Achilles, der Sohn der Meernymphe Thetis, und Hector, der Heerführer Trojas, vor den Toren der belagerten Stadt zum Duell trafen.

Achilles tötete Hector, den Sohn des Priamos, nach kurzem Waffengang, und noch in seinem Todeskampf bat Hector seinen Gegner, er möge den Leichnam an die Trojaner zurückgeben. Doch Achilles missachtete das Flehen des Sterbenden, er nahm Hector und spannte ihn hinter seinen Streitwagen. Zwölf Tage lang schleifte er den toten Hector durch den Sand.

Vielleicht erinnert das Wüten des Achilles den einen oder anderen an ein paar Bilder aus der jüngeren Vergangenheit, an bewegte Bilder aus Afghanistan, die US-Soldaten lustvoll beim Bepinklen getöteter Gegner zeigen, und nicht wenige fragten sich, was hier passiert war, im zehnten Jahr eines Krieges, dessen Ende nicht abzusehen ist.

Und die Frage, die hinter diesen Bilder steht, lautet: Was geschieht, wenn Menschen Macht erhalten, ohne gleichzeitig ein Korrektiv zu bekommen? Schon die Simulation ist ein Wagnis. 1971 führte der amerikanische Psychologe Philip Zimbardo an der Stanford University das sogenannte Stanford-Prison-Experiment durch.

Studenten wurden per Los-Verfahren in Wärter und Gefangene eingeteilt. Macht oder Ohnmacht - der Zufall entschied darüber, wer sich in welche Rolle im Keller des Universitätsgebäudes zu fügen hatte.

Zimbardo überwachte den Versuch nicht nur. Er nahm selber daran Teil, und stellte sich an die Spitze der Hierarchie. Ein Psychologe, ein freudianisch geprägter Mensch mit dem Rüstzeug zur Selbstreflexion gab den Gefängnisdirektor. Was gab es da schon zu befürchten?

Zwei Wochen lang sollte das Experiment dauern. Schon nach sechs Tagen wurde es abgebrochen. Waren die Kameras nicht eingeschaltet, so geschah Unglaubliches. Wärter zogen gefesselten Gefangenen Papiertüten über die Köpfe. Häftlinge mussten sich ausziehen. Sie wurden genötigt, sich gegenseitig zu befingern. Alle Grenzen fielen.

Wer einen Blick in Zimbardos Ausführungen wirft, der kann sich schnell die Frage stellen, was in aller Welt eine echte Uniform, ein echter Dienstrang und, ja: eine echte Waffe mit Menschen anzustellen vermögen, zumal im Krieg.

Zimbardo beließ es nicht bei der Forschung von Stanford. Er sprach mit Hutu-Soldaten aus Ruanda, die ihre Nachbarn mit Macheten abschlachteten, er war Gutachter, als es um die Folterer von Abu Ghraib ging. Sein Fazit ist ernüchternd. In jedem von uns schlummere eine diabolische Kraft, und sie trete hervor, wenn Autoritäten versagen und das dunkle Treiben tolerieren - oder gar fördern.

Als mächtigster Krieger vor den Toren Trojas war Achilles nur sich selbst verpflichtet. Er desertierte, er ließ die Truppe im Stich, wenn ihm danach war. Konsequenzen brauchte er nicht zu fürchten. Er repräsentierte Allmacht auf dem Schlachtfeld.

Doch eines unterscheidet ihn von den Schändern in Afghanistan. Auf Bitten von Hectors Vater Priamos gab er schließlich den Leichnam heraus. Er erfüllt damit nicht nur die Bitte des trauernden Vaters, sondern respektiert auch Hectors letzten Wunsch. Natürlich ließe sich einwenden, dass Achilles aus heutiger Sicht ein unfassbarer Drecksack ist.

Aber immerhin ein einsichtiger! Indem Achilles den Leichnam ausliefert und den Trojanern die Möglichkeit gibt, ihn in allen Ehren zu bestatten, erhält der tote Hector seine Würde zurück.

Doch die Dichtung ist meist milder als das Leben. Kommt es vor den Toren Trojas zu einem nicht mehr für möglich gehaltenen Akt der Zivilisierung des Krieges, zu einer Geste, die auch Achilles ein Stück Menschlichkeit zurückgibt, so erklären uns die Bilder aus Afghanistan das Gegenteil.

Die Toten haben keinen Homer, keinen Chronisten. Sondern nur diejenigen, die ihre Leichname entweihten und bewegte Bilder mit der Handy-Kamera drehten - Bilder, die vor allem Zeugnis von einem geben: Vom dünnen Lack der Zivilisation.

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Stefan Osterhaus, Journalist, 1973 im sauerländischen Neheim-Hüsten geboren, lebt und arbeitet seit 2000 in Berlin, wo er zunächst Redakteur der "Berliner Zeitung" war. Seit 2005 ist er Sportkorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung", er schreibt für die "taz", den WDR-Hörfunk und für Deutschlandradio Kultur.
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