Demonstrationen gegen die Justizreform

Polens Jugend entdeckt den Protest

Demonstranten halten am 23.7.2017 vor dem Präsidentenpalast in Warschau Poster mit der Aufschrift "Verfassung" (auf Polnisch) in die Höhe.
Proteste gegen die polnische Justizreform vor dem Präsidentenpalast in Warschau © AFP / Janek Skarzynski
Dieter Bingen im Gespräch mit Christine Watty · 25.07.2017
Staatspräsident Duda weigert sich, ein umstrittenes Gesetz zur polnischen Justizreform zu unterzeichnen: Das sei auch ein Erfolg der friedlichen Proteste, meint Dieter Bingen, Direktor des Deutschen Polen-Instituts. Neu daran: auch die Jungen gehen auf die Straße.
Polens Präsident Andrzej Duda habe verstanden, "dass er eigentlich nicht als Notar des Präses Kaczynski in die Geschichtsbücher eingehen sollte, sondern eben auch seine eigenen Rechte und seine eigene Pflicht als Präsident aller Polen erfüllen muss". So würdigt der Direktor des Deutschen Polen-Instituts, Dieter Bingen, im Deutschlandfunk Kultur die Weigerung des polnischen Präsidenten, zumindest eins der umstrittenen Gesetze zur Justizreform zu unterzeichnen.
Dabei hat offenbar auch die Friedlichkeit der Proteste eine Rolle gespielt: "Das hat schon einen großen Eindruck offensichtlich gemacht, zumal diese Demonstrationen ja nicht nur auf die großen Städte Polens beschränkt waren, sondern wenn man die Landkarte sich anschaute, also zig kleinere Städte auch und Ortschaften mit Protesten gefüllt waren und die alle sehr, zum größten Teil, sehr würdevoll verliefen, und das machte sie auch so relativ unangreifbar."

Die junge Generation mobilisiert

Auffallend an den Protesten sei auch gewesen, dass erstmals mehrheitlich junge und sehr junge Menschen auf die Straße gegangen seien, so Bingen.
"In der Zeit nach der Regierungsübernahme der PiS und den ersten verfassungsändernden Gesetzen mit dem Staatstribunal und nach dem Aufruf dem damals gegründeten Komitee zur Verteidigung der Demokratie ist ja bemängelt worden oder auch selbstkritisch gesehen worden später, dass ein großer Teil der Demonstranten seinerzeit, bis vor Kurzem, eben die mittlere und ältere Generation gewesen ist, und dass die Mobilisierung der jungen Generation eigentlich nicht erfolgte. Und das ist eigentlich, was im Augenblick so hervortritt und dann auch vielleicht etwas überraschend gewesen ist, dass es dann jetzt sehr viele junge Leute sind. Das ist eben etwas Neues."
(uko)

Das Interview im Wortlaut:
Christine Watty: Es kommt natürlich immer darauf an, aus welcher Perspektive man Ereignisse erzählt, aber die tagelangen Proteste in Polen dürften einen wichtigen Ausschlag gegeben haben, was die Haltung des Präsidenten Andrzej Duda in Bezug auf die bevorstehende Justizreform betrifft, denn Duda hat nun sein Veto eingelegt, zumindest gegen zwei von drei Gesetzen. Die Menschen auf der Straße hatten dagegen demonstriert, dass diese Gesetze der Regierung ermöglicht hätten, ihren Einfluss auf die Gerichte zu vergrößern und damit die Gewaltenteilung aufzuheben. Duda übrigens, und da kommt die Sache mit der Perspektive noch mal ins Spiel, blickt dennoch skeptisch auf diese Form der Demonstration. Er sagte nämlich:
Andrzej Duda: Gestern gab es Proteste vor dem Haus von Jaroslaw Kaczynski, heute, soweit ich hörte, Proteste vor dem Haus des Oppositionsführers. Ich will nicht, dass sich das vertieft, denn das vertieft die Spaltung der Gesellschaft. Es gibt ein Polen, und Polen braucht Ruhe. Als Präsident fühle ich mich dafür verantwortlich.
Watty: Also Duda blickt dennoch skeptisch auf die Demonstrationen, will nicht, dass die eine Spaltung Polens vertiefen, dennoch muss man sagen, diese Proteste blieben bisher friedlich. Ist das eine Stärke des polnischen Volkes? Darüber will ich sprechen mit Professor Dieter Bingen. Er ist Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt. Schönen guten Morgen, Herr Bingen!

Friedliche Demonstrationen haben "großen Eindruck" gemacht

Dieter Bingen: Morgen, Frau Watty!
Watty: Da windet sich Präsident Duda dann doch so ein bisschen mit Blick auf die großen Demonstrationen, aber würden Sie schon auch sagen, dass diese Demonstrationen wichtig waren für den Kurswechsel, also den Einsatz des Vetos von Duda?
Bingen: Das hat Duda in seiner Ansprache auch angedeutet. Er hat von den Elementen gesprochen, die er negativ betrachtet. Er hat auch davon gesprochen, dass das nur eine Minderheit zum Glück gewesen sei und dass er eben auch diese friedlichen Demonstrationen gesehen hat. Das hat auch sein Präsidialsprecher einige Stunden vorher gesagt, dass der Präsident schon sieht, was auf den Straßen geschieht, und das waren eben dieses Lichtermeer oft abends und die Friedlichkeit der Demonstrantinnen und Demonstranten, vor allem auch junge Leute, aber nicht alleine.
Das hat schon einen großen Eindruck offensichtlich gemacht, zumal diese Demonstrationen ja nicht nur auf die großen Städte Polens beschränkt waren, sondern wenn man die Landkarte sich anschaute, also zig kleinere Städte auch und Ortschaften mit Protesten gefüllt waren und die alle sehr, zum größten Teil, sehr würdevoll verliefen, und das machte sie auch so relativ unangreifbar.

An die Solidarnosc-Bewegung anknüpfen

Watty: Dass diese Demonstrationen so würdevoll, wie Sie sagen, und auch so beharrlich und zugleich friedlich meist geführt worden, ist das ein Merkmal der polnischen Demonstrations- oder Protestkultur?
Bingen: Ja, kann man wohl sagen, wenn man allein zurückblickt auf die Entwicklung der Freiheitsbewegung in Polen Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre. Da war es vor allem diese Friedlichkeit auch der Solidarnosc-Bewegung und der Massenproteste seinerzeit und die Wahl einer Symbolik, die kaum angreifbar gewesen ist, die dazu führten, dass dann die anscheinend Mächtigen doch relativ machtlos, zumindest im Augenblick, erschienen sind, sich nicht provozieren lassen, nicht zu Gegengewalt greifen, keine Gebäude angreifen, keine Menschen angreifen.
Das ist eigentlich etwas, was in der polnischen Protestkultur in den letzten Jahrzehnten doch sehr stark sichtbar gewesen ist und stark unterscheidet von der Protestkultur, wie sie in anderen europäischen, auch west- und südeuropäischen Ländern feststellbar ist.

Neu: auch die Jungen gehen auf die Straße

Watty: Und was sich offenbar ja auch einfach so fortsetzt nach dem Blick in die Geschichte, jetzt auch ins Heute. Sind das junge Menschen, die auf der Straße sind beziehungsweise wie würden Sie die Leute beschreiben, die sich da so vehement einsetzen, also jetzt im Moment gegen die Justizreform? Davor gab es ja schon die großen Demonstrationen gegen das drohende Abtreibungsverbot. Also, immer sind viele da und offenbar ja auch, klar, junge Leute, aber auch generationsübergreifend?
Bingen: Also das ist ja nun das qualitativ Neue der letzten Wochen gewesen, dass eigentlich erstmals jetzt mehrheitlich oder zu einer sehr großen Anzahl dann auch junge und sehr junge Menschen auf die Straße gegangen sind. In der Zeit nach der Regierungsübernahme der PiS und den ersten verfassungsändernden Gesetzen mit dem Staatstribunal und nach dem Aufruf dem damals gegründeten Komitee zur Verteidigung der Demokratie ist ja bemängelt worden oder auch selbstkritisch gesehen worden später, dass ein großer Teil der Demonstranten seinerzeit, bis vor Kurzem, eben die mittlere und ältere Generation gewesen ist und dass die Mobilisierung der jungen Generation eigentlich nicht erfolgte, und das ist eigentlich, was im Augenblick so hervortritt und dann auch vielleicht etwas überraschend gewesen ist, dass es dann jetzt sehr viele junge Leute sind. Das ist eben etwas Neues.
Also, vor anderthalb Jahren, vor einem Jahr waren es vor allem sehr viele mittlere und ältere Generationen, die die Erfahrungen mit der Volksrepublik Polen hatten, mit dem Kommunismus, die selbst ihrer eigene Solidarnosc-Geschichte haben, die auf die Straße gegangen sind, und jetzt waren viele, und da sind viele auf der Straße, die das kommunistische Polen nicht kennen, die nur das freie Polen kennen und jetzt neue Gefahren sehen für auch ihre eigene Lebensgestaltung und für die Freiheit und Demokratie in Polen.

Duda - mehr als nur ein "Notar" des Präsidenten

Watty: Glauben Sie, dass diese Demonstrationen auch gerade, weil sie so befüllt sind von der jungen Generation, doch auch das Potenzial haben, nachhaltig die Politik zu verändern, denn die Reaktionen jetzt auf Dudas Veto sind ja erst mal von großer Empörung sozusagen seitens der Regierung getragen, dass das so nicht funktionieren kann? Glauben Sie, dass da aber trotzdem mehr Kraft dahintersteckt, gerade wenn man sich anschaut, wer da alles im Moment auf die Straßen geht?
Bingen: Es ist sehr wichtig, sehr wichtig, dass die Zivilgesellschaft oder wichtige Teile der Zivilgesellschaft aufgetreten sind, aber wichtig ist natürlich auch gewesen für den Präsidenten, dass es quasi aus dem gesamten Bereich des Rechts und der Rechtswissenschaft, von allen Institutionen in Polen, die ein Ansehen haben, aus dem Bereich Justiz, aus der Politik, aus der Wissenschaft, dass eben aus dem Kreis der konservativen Anhänger eines Wandels in Polen diese Kritik gekommen ist an dem Vorgehen, das gegen Recht und Gesetz verstößt, das Vorgehen, dem parlamentarischen Vorgehen, das von Jaroslaw Kaczynski und der Regierung forciert worden ist.
Das hat nicht nur Empörung bei der jungen Generation geschaffen, sondern vor allem auch bei allem, was Rang und Namen hat und was man nicht diskreditieren kann als Kinder des Sicherheitsdienstes oder Nachfolger der kommunistischen Partei, international und national eben eine breite Front des "So nicht", und das ist bei Duda eben dann auch hängengeblieben, dass er eigentlich nicht als Notar des Präses Kaczynski in die Geschichtsbücher eingehen sollte, sondern eben auch seine eigenen Rechte und seine eigene Pflicht als Präsident aller Polen erfüllen muss.
Watty: Danke schön an Professor Dieter Bingen! Er ist Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, und gesprochen haben wir über die Demonstrationen gegen die geplante Justizreform in Polen und auch die Reaktionen von Präsident Duda darauf, der jetzt sein Veto gegen zwei von drei Gesetzen eingelegt hat. Vielen Dank, Herr Bingen, und schöne Grüße nach Darmstadt!
Bingen: Ja, bitte schön! Wiederhören, Frau Watty!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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