Demokratie

Wenn Abgeordnete dem Volkswillen widersprechen müssen

Eine Gruppe Besucher sitzt im Plenarsaal im Reichstag in Berlin.
Parlamentarier müssten die besseren Bürger sein, meint Karsten Fischer. © dpa / Soeren Stache
Von Karsten Fischer · 28.09.2017
In einer Demokratie sind Parlamentarier Vertreter des Volkes. Das heißt aber nicht, unter Berufung auf Stimmungen und Meinungen in der Bevölkerung zu entscheiden, meint der Politologe Karsten Fischer. Abgeordnete hätten die Verpflichtung zu einsichtigem und moralischem Verhalten.
Noch vor wenigen Jahren schien es unmöglich, aber heute ist die Demokratie wieder einmal bedroht, und zwar mitten in Europa, durch Autokraten, Verfassungsfeinde und Populisten. Gerade nach einer Bundestagswahl, mit der diese politischen Verhältnisse nun auch in Deutschland eingekehrt sind, ist es um so wichtiger, sich die Frage zu stellen, was die Demokratie ausmacht, was sie schützenswert macht, und was ihre Aufgabe ist. Die Antwort lautet: Demokratie ist eine Selbstoptimierung.
Zur Erläuterung dieses Rätselworts kann ein Zitat des früheren Bundesministers der Justiz, Thomas Dehler, dienen. Dehler hat nämlich im Jahr 1952 im Deutschen Bundestag anläßlich der Debatte über eine Wiedereinführung der Todesstrafe gesagt, ein der Menschenwürde widersprechender Wille der Bevölkerungsmehrheit sei nicht maßgeblich für die Parlamentarier.
Schließlich sei das Wesen der repräsentativen Demokratie dasjenige einer "parlamentarischen Aristokratie". Und in dieser müßten sich die Abgeordneten bemühen, zu höherer Einsicht zu gelangen und eine größere moralische Integrität zu erlangen, als man dies von der normalen Bevölkerung erwarten dürfe.
Dies klingt zunächst irritierend. Denn wie soll eine "parlamentarische Aristokratie" mit demokratischer Gleichheit vereinbar sein? Ist Dehlers Überlegung nicht ein frühes Zeugnis für jene Abgehobenheit politischer Eliten, die im zeitgenössischen Populismus kritisiert wird?

Autokraten berufen sich auf den unbedingten Volkswillen

Tatsächlich bestreitet Dehler den Abgeordneten das Recht, unter Berufung auf Stimmungen und Meinungen in der Bevölkerung zu entscheiden. Dies entspricht durchaus der Logik der westlichen Demokratie, in der Entscheidungen unter dem Vorbehalt stehen, mit Freiheit und Menschenwürde vereinbar zu sein.
Im Gegensatz dazu berufen sich Populisten und Autokraten, wie der ungarische Ministerpräsident Orbán und der türkische Präsident Erdogan, auf den unbedingten Willen des Volkes, und das verbindet sie mit den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts.

Vorbildfunktion der Parlamentarier

Dehlers Forderung ist also keine Ermächtigung der Parlamentarier, sondern deren Verpflichtung zu einsichtigem und moralischem Verhalten. Folglich ist nichts abwegiger als die unter heutigen Politikern verbreitete Ausrede, sie seien halt auch nicht besser als der Durchschnitt der Bevölkerung. Das ist nach Dehler keine legitime Entschuldigung für Verfehlungen. Parlamentarier haben die Pflicht, eine positive Vorbildfunktion einzunehmen, anstatt ihre Wähler zu frustrieren oder zu verleiten, Fehlverhalten nachzuahmen.
Insofern besteht in der Demokratie sowohl die Chance als auch die Pflicht zur Selbstoptimierung: Jeder demokratisch gewählte Politiker hat die Aufgabe, sein öffentliches Amt als Dienst am Allgemeinwohl auszuüben. Dafür braucht es ein Höchstmaß an Verständnis für komplexe Problemlagen, anstatt sich mit bequemen und beliebten Wegen zu begnügen.

Demokratie garantiert fundamentale Rechte und Werte

Und umgekehrt dürfen die Bürger die Politiker auch nicht in Versuchung führen. Sie müssen allen Politikern misstrauen, die sich populistisch damit brüsten, die niederen Instinkte des Volkes zu vertreten. Demokratie bedeutet nicht, dass das Volk um jeden Preis herrschen darf, sondern sie garantiert fundamentale Rechte und Werte.
Und so, wie die Demokratie die Gelegenheit bietet, in der öffentlichen Debatte andere zu überzeugen, fordert sie auch die Offenheit, sich dabei möglicherweise von anderen überzeugen zu lassen. Sowohl für Politiker als auch für die Bevölkerung ist die Demokratie also gleichermaßen Chance und Pflicht zur moralischen und intellektuellen Selbstoptimierung. Darin liegt ihre weltgeschichtlich einmalige Bedeutung und Verheißung.

Karsten Fischer ist Professor für Politische Theorie an der Ludwig Maximilians Universität München. Zu seinen Forschungsschwerpunkte gehört die politische Ideengeschichte und -Theorie, sowie das Themenfeld Politik und Religion.

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