Debüt im Deutschlandfunk Kultur

Himmelsblick und Höllenfahrt

Die georgische Pianistin Mariam Batsashvili
Die Pianistin Mariam Batsashvili © Attila Kleb
21.11.2017
Mariam Batsashvili ist eine Musikerin der Extreme. Für ihr Berlin-Debüt im Kammermusiksaal der Philharmonie hat die georgische Virtuosin einige der schwierigsten Werke der Klavierliteratur ausgewählt. Dabei stellt sie ihre Meisterschaft stets vollkommen in den Dienst der Musik.
Die 24-jährige Pianistin Mariam Batsashvili zählt zu den großen musikalischen Hoffnungsträgern am Klavier. Geboren 1993 in Tiflis/Georgien, studierte sie zunächst an der Evgeni Mikeladze-Musikschule ihrer Heimstadt, bevor sie an die Hochschule für Musik "Franz Liszt" Weimar zu Grigory Gruzman wechselte.
Internationale Aufmerksamkeit erlangte sie, als sie 2014 den 10. Franz Liszt-Klavierwettbewerb in Utrecht gewann. Erste Orchestererfahrung auf Spitzenniveau konnte die junge Pianistin unter anderem mit dem niederländischen Radio Filharmonisch Orkest unter James Gaffigan, mit dem Rotterdam Philharmonisch Orkest unter Rafael Payare und mit den Brüsseler Philharmonikern sammeln.
In rund 30 Ländern gab sie bereits Soloabende, darunter China, Südkorea, Indonesien, Brasilien, die USA, Südafrika, Frankreich, Spanien, Norwegen, die baltischen Staaten sowie Benelux und Deutschland. Sie war zu Gast bei zahlreichen Festivals wie dem Beethovenfest Bonn, dem Pianofortissimo Festival Bologna und dem Delft Kammermusikfestival.
In der Saison 2016/17 konzertierte Mariam Batsashvili als "Rising Star" der European Concert Hall Organisation (ECHO) in den bedeutendsten Sälen Europas, Auch Mariam Batsashvilis Saison 2017/18 ist gespickt mit spannenden Debüts. Neben den Philharmonien von St. Petersburg und Berlin stehen die Tonhalle Zürich und erneut die Londoner Wigmore Hall auf ihrer Agenda. Mit dem MDR Sinfonieorchester, dem Orchestre National de Belgique und dem Württembergischen Kammerorchester Heilbronn wird sie Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 KV 488 zur Aufführung bringen. Rezitaltourneen führen sie unter anderem nach Mexiko und in die USA, und beim Rheingau Musik Festival 2018 wird sie erstmals mit Bachs Goldberg-Variationen zu erleben sein.
Vor kurzem wurde Mariam Batsashvili für das britische Förderprogramm "BBC New Generation Artists 2017-2019" ausgewählt.

Live aus dem Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin

Johann Sebastian Bach
Konzert für Klavier solo d-Moll, BWV 974
nach einem Oboenkonzert von Alessandro Marcello
Franz Liszt
Sarabande und Chaconne über Themen aus der Oper "Almira" von G. F. Händel
Frédéric Chopin
Grande Polonaise brillante mit vorangehendem Andante spianato für Klavier, op. 22

ca. 20:50 Uhr Konzertpause
Olga Hochweis im Gespräch mit Mariam Batsashvili

Johann Sebastian Bach / Ferruccio Busoni
Chaconne d-Moll, aus der Partita Nr. 2 für Violine solo BWV 1004
Bearbeitet für Klavier von Ferruccio Busoni
Franz Liszt
I. "Après une lecture de Dante: Fantasia quasi Sonata". Andante maestoso
II. Tarantella. Presto – Canzone napolitana – Prestissimo
aus: "Années de pèlerinage – Deuxième année – Italie" und dem Zusatz "Venezia e Napoli"
Moderation: Haino Rindler

Zu den Werken


J. S. Bach: Konzert für Klavier solo d-Moll, BWV 974 (nach A. Marcello)
Die Weimarer Musiksammlung ist zu Bachs Zeiten unter Kennern berühmt. In der Notenbibliothek finden sich auch Werke von Alessandro Marcello. Sehr wahrscheinlich stößt der Hoforganist, Kammermusiker und spätere Konzertmeister Johann Sebastian Bach dort auf das Oboenkonzert des venezianischen Universalkünstlers und -gelehrten Alessandro Marcello. In seiner Weimarer Zeit kopiert und bearbeitet Johann Sebastian Bach eine ganze Serie von Werken fremder Komponisten für Orgel und Cembalo. Der italienische Stil fasziniert ihn. Transkribierend macht er ihn sich zu eigen und sorgt zugleich mit den Versionen für Tasteninstrumente für die Weiterverbreitung. Bachs Cembalobearbeitung entsteht noch vor der Druckausgabe des Originals und ist heute das älteste erhaltene Manuskript des Werkes. Allerdings verwischen sich hier bereits die Spuren des eigentlichen Urhebers. Bachs Version wird als Bearbeitung eines Vivaldi-Konzerts veröffentlicht. Ein Irrtum, der erst spät korrigiert wird. Das dreisätzige Konzert weist eine ungewöhnliche Satzfolge auf. Statt mit einem schnellen Kopfsatz, beginnt es mit einem Andante. Im Zentrum steht das Adagio, der berühmteste Teil sowohl des Originals wie auch der Bearbeitung. Den Schluss bildet ein Bravourstück. Alessandro Marcellos Oboenkonzert gilt heute als Archetypus der Gattung. Bachs Bearbeitung hat maßgeblich zur Bekanntheit der Musik beigetragen. Oboisten spielen das Konzert heute mit Bachs Ausarbeitungen, obwohl diese eigentlich für das Cembalo bestimmt waren.

Franz Liszt: Sarabande und Chaconne über Themen aus der Oper "Almira" von G. F. Händel
Was für eine Form! Verwirrt und orientierungslos standen die Kritiker der Uraufführung diesen "Bearbeitungen" gegenüber. Angekündigt war die Umarbeitung zweier Tanzsätze aus Georg Friedrich Händels erster Oper Almira. Tatsächlich entfernt sich Franz Liszt in Sarabande und Chaconne beträchtlich von den Originalen. Er macht sie zum Ausgangspunkt für eine zweifache Variationsserie, die mit der Sarabande beginnt. Es folgen vier Variationen. In der Mitte steht die Chaconne, die drei mal variiert wird, bis sich beide Tänze im Schlussteil begegnen, wo sich die Sarabande nach Dur wendet. Vielleicht hätte der Titel anders lauten müssen, um die Hörer auf die richtige Fährte zu setzen. Um Formkonventionen hat er sich nie gekümmert. Ihre Gestalt verdanken seine Werke der Notwendigkeit des Augenblicks. Und so begegnen sich in dieser Händel-Reminiszenz zwar zwei Tänze aus "Almira", jedoch in anderer Reihenfolge, als sie in der Oper zu hören waren. Auch die Bezüge zur Handlung fehlen. Liszt holt Händels Musik in seine Zeit, spielt mit dem Original. In variierender Bearbeitung lassen Händels Tanzsätze ihre Herkunft weit hinter sich. Mit dem formal ungewöhnlichen Doppelarrangement zeigt Franz Liszt, wie weit er Händel tragen kann.

Frédéric Chopin: Polonaise mit vorangehendem Andante spianato für Klavier Es-Dur, op. 22
Wie in Trance verharrt der erste Teil dieses ungewöhnlichen Zweiteilers. Die Spielanweisung "tranquillo" über dem ersten Takt reicht Frédéric Chopin offenbar nicht, als er seiner bereits beendeten Grand Polonaise das Andante voranstellt. Nicht nur Ruhe soll die Introduktion verströmen. Was er sucht, ist ein Zustand fortwährender seliger Entrückheit. Die seltene Charakterisierung "spianato" fordert einen ebenmäßigen und schlichten Vortrag. Das Andante in G-Dur lässt die anschließende Polonaise wie aus einem Traum aufsteigen. Die Grande Polonaise gehört zu Chopins anspruchsvollsten Klavierwerken. Mit ebenso ausgedehnten wie rasanten Läufen bespielt er sämtliche Lagen des Klaviers. Heikle Oktav- und Akkordsprünge, Terztriller und üppig ausgestattete Melodiebögen reihen sich ohne Pause aneinander. Unter alledem pulsiert der drängende Rhythmus des polnischen Nationaltanzes. Er trägt die überbordenden Ausschweifungen, hält sie zusammen, treibt sie an und sorgt dafür, dass auch in den lyrischen Momenten keine Ruhe einkehrt.
Johann Sebastian Bach / Ferruccio Busoni:
Chaconne d-Moll aus der Partita Nr. 2 für Violine solo BWV 1004
Seit Bachs spieltechnisch ungemein herausforderndes Violinsolo im 19. Jahrhundert wiederentdeckt wurde, begeistert es das Publikum, bringt Geiger an ihre Grenzen, lässt Wissenschaftler über mystische Zahlenspiele und Choralbotschaften spekulieren und beschäftigt ganze Generationen von Komponisten, die sich das Werk auf den Arbeitstisch legen. Ferruccio Busoni übertrug die Chaconne 1892 auf das Klavier und widmete sie dem Pianisten und Komponisten Eugene d‘Albert. Wie frei Busoni mit dem "Original" umging, zeigt seine Bearbeitung, in der er Bachs Musik nicht nur dem Klavier anverwandelt, sondern auch die sonatensatzartigen Strukturen innerhalb der Variationsform akzentuiert. Er habe sich zudem an Bach selbst ein Beispiel genommen, schreibt der Bearbeiter an anderer Stelle. Bei seiner monumentalen Inszenierung des Violinsolos an eine Orgel zu denken, liegt nahe. Aber der Organist ist in diesem Fall nicht Bach selbst, sondern sein später Verehrer Ferruccio Busoni.
Franz Liszt: "Après une lecture du Dante: Fantasia quasi Sonata" und Tarantella, aus: Années de pèlerinage – Deuxième année – Italie
Die Klavierkomposition "Après une lecture de Dante" bildet den Abschluss des zweiten Teils der "Années de pèlerinage. Deuxième année: Italie". Das gegen Ende der 1830er Jahre begonnene und zunächst zweiteilig angelegte Werk überarbeitete Franz Liszt 1849 in Weimar. Ohne Vorspiel weisen die ersten zwei Takte den Weg. Die Tonfolge a-es-a-es-a-es lässt keinen Zweifel, wohin die Reise geht. Der Tritonus, der die Oktave in zwei gleiche Hälften teilt, ist der "diabolus in musica", das Teufelsintervall. Mit diesem brüsken Einstieg durchschreitet Franz Liszt das Tor zur Hölle, über dem bei Dante die Inschrift prangte: "Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!" Mit dem Motiv der Höllenfahrt erschöpfen sich aber auch schon die konkreten literarischen Entsprechungen. "Après une lecture de Dante" ist keine Programmmusik, die Dantes Begegnungen mit den unzähligen Bewohnern der Unterwelt nacherzählt. Die Fantasie, die beinahe eine Sonate sein könnte, braucht, um den Gattungskonventionen zu genügen, ein zweites, kontrastierendes Thema. Und das kann nach dem Sturz in die Tiefe nur der Himmel sein. Es wurde viel spekuliert, welche himmlischen Liebesgeschichten den hellen Episoden dieser Dante-Fantasie Modell gestanden haben. Liszt selbst hat darüber keine Auskunft gegeben.