Debatte um Denkmalsstürze

Die Fallen der Amnesie

04:44 Minuten
Alte Straßenschilder aus Berlin Ost 1993-1994 - gesammelt vom Künstler Raffael Rheinsberg
Alte Straßenschilder aus Berlin Ost 1993-1994 - gesammelt vom Künstler Raffael Rheinsberg. © imago/imagebroker
Ein Kommentar von Marko Martin · 30.06.2020
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Bei der gegenwärtigen Debatte um Denkmalsstürze lohnt es sich zurückzuschauen: auf die Situation im Osten Deutschlands vor 30 Jahren. Zudem sind Mentalitäten häufig robuster als Steinskulpturen und Straßenschilder, meint der Schriftsteller Marko Martin.
Als im Sommer vor 30 Jahren Karl-Marx-Stadt in Chemnitz zurückbenannt wurde, schlugen noch einmal die Wogen hoch. Zwar hatten zuvor in einer Abstimmung 76 Prozent der teilnehmenden Einwohner für Chemnitz votiert, für immerhin ein Viertel der Befragten aber war der 1953 per Regierungs-Ukas ("Erlass", Anm. d. Red.) durchgesetzte Name von Karl Marx längst "Teil unserer Identität" geworden.
In jener Zeit begannen auch andernorts im Osten die Umbenennungen von Straßen, Plätzen, Sport- und Bildungseinrichtungen. Befreiungs- oder Kahlschlag, Wiederentdeckung des historischen Gedächtnisses oder eilfertige Tabula rasa - womöglich sogar, wie vor allem PDS-Wäher argwöhnten, "ein Kotau vor dem Westen"?

Verwischte Spuren zweier Diktaturen

Nun war freilich nirgendwo eine "Straße der Werktätigen" in eine "Allee der Unternehmer" umbenannt worden, und kein "Platz der sozialistischen Waffenbrüderschaft" hatte sich in einen "Nato-Corso" verwandelt. Nicht etwaige "Sieger" hatten hier Geschichte geschrieben oder gar in revanchistischer Absicht alte Militaristennamen erneut eingesetzt, sondern zivile Natur und geografische Nähe waren wieder zu ihrem Recht gekommen: Berg- und Sonnenstraßen erstanden auf oder auch Straßen, die nach der nächstgrößeren Ortschaft benannt waren.
Allerdings: Derlei Umbenennungen, die auch im ländlichen Raum Resultat demokratischer Referenden waren, suggerierten eine Art neudeutscher Idylle - als hätte es die Verwerfungen durch zwei Diktaturen überhaupt nie gegeben.

Amnesie auf mehreren Ebenen

Doch zeugten - etwa im Osten Berlins und im brandenburgischen Umland - ostentativ beibehaltene "DDR-Namen" tatsächlich von größerem Ambivalenzbewusstsein? Auch hier greifen vorschnelle Erklärungen zu kurz: Viele Anwohner verbanden schlicht ihre Kindheit und Jugend mit bestimmten Namen, um deren einstige ideologische Aufoktroyierung sie nicht mehr wussten.
Überdies: Ein Ernst-Thälmann-Denkmal zu stürzen oder eine Thälmann-Straße nicht umzubenennen, läuft womöglich sogar auf das gleiche hinaus: eine Amnesie sowohl im Namen der Veränderung wie auch der Bewahrung, die entweder den tragischen KZ-Tod Thälmanns negiert oder eben nichts wissen will von der verhängnisvollen Politik des vormaligen KPD-Führers, der in Stalins Auftrag von Linksaußen die Weimarer Republik entschieden geschwächt und vor allem die Sozialdemokraten bekämpft hatte.

Mentalitäten überleben

Auch zeugt die in örtlichen Gymnasien wohl bis heute nie thematisierte Weiterexistenz von "Otto-Nuschke-Straßen" wohl ebenso wenig von historischem Gespür wie die Tilgung eines solchen Namens etwa in Sachsen oder Thüringen. Dort nämlich konnte die seit 1990 regierende CDU auch deshalb den Makel einer lammfrommen DDR-Blockpartei erfolgreich verdrängen, weil sie Kollaborateure aus den eigenen Reihen wie etwa jenen stellvertretenden DDR-Ministerpräsident Otto Nuschke kurzerhand ins erinnerungspolitische Nirwana befördert hatte.
Abschließende Frage: Glaubt tatsächlich irgendwer, dass im Sommer 2018 die ausländerfeindliche Demonstration in Chemnitz weniger Schockwirkung gezeitigt hätte, hätten sich die grölenden Neonazis nicht unter der 1990 beibehaltenden wuchtigen Karl-Marx-Schädelskulptur versammeln können?
Wer nun dort den Hitlergruß in die Kameras zeigte, mochte eventuell einst als DDR-Kind mit Pionierhalstuch oder im FDJ-Hemd an jenem Marx vorbeimarschiert sein. Doch waren vor zwei Jahren nicht wenige der rechtsextremen Randalierer aus dem Westen angereist.
Wer also auch heute noch Denkmalsstürze befürwortet oder im Gegenteil Umbenennungen bekämpft, sollte jenseits von Symbolpolitik vielleicht zuerst einmal auf verhängnisvolle Mentalitäten schauen, die bislang noch jeden Staats- und Namenwechsel hartleibig überlebt haben.

Marko Martin, geb. 1970 in Burgstädt/Sachsen, verließ im Mai 1989 als Kriegsdiensttotalverweigerer die DDR und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien in der Anderen Bibliothek sein Essayband "Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters".

Ein Porträt des Autors Marko Martin.
© Picture Alliance/Jens Kalaene
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