Das Volk, das nicht gezählt werden will

Von Burkhard Müller-Ullrich · 09.05.2011
Wer in Deutschland eine Volkszählung durchführen will, muss sich auf etwas gefasst machen, warnt der Publizist Burkhard Müller-Ullrich. In wohl keinem anderen Land ist das Misstrauen gegen statistische Erhebungen so ausgeprägt wie hierzulande.
Im tiefsten Inneren sträubt sich der Mensch gegen seine Quantifizierung. Die Unpersönlichkeit der Zahlenwelt hat etwas Erniedrigendes. Dabei führen wir alle ein Doppelleben in der Zahlenwelt. Unser ganzes Dasein wird von Statistiken begleitet, in denen wir bloß als Mengenbruchteil, als abstrakte Größe auftreten. Die Lebensversicherung kalkuliert mit unserem Tod, die Tarife der Krankenversicherung hängen von der Volksgesundheit ab, das ganze Inventar unserer Lebenswelt, von der Stromversorgung über die Schulen bis zum Straßenbau, basiert auf mathematischen Bedarfsermittlungen.

Der Mensch ist das berechnende Wesen. Planvolles Handeln setzt Daten voraus, und seitdem es in der Weltgeschichte staatliche Gebilde gibt, erheben Staaten Daten. Mit dem Entstehen der neuzeitlichen Massengesellschaft ist das allgemeine Buchführungswesen förmlich explodiert. Nicht nur die Staatsverwaltung, sondern auch die Wirtschaft hat begonnen, die Wirklichkeit in Listen und Tabellen zu erfassen. Die industrielle Produktion von Konsumgütern und Nahrung brachte einen Quantitätssprung mit sich, der ohne statistische Methoden undenkbar gewesen wäre.

Entwickelt wurden diese Methoden in den beiden Riesenländern Sowjetunion und USA. Doch während man in der Sowjetunion glaubte, die Realität durch Planvorgaben erzwingen zu können, setzte man in Amerika auf die Verbesserung der Analysewerkzeuge.

Wer die Demokratie ernst nimmt, kommt um das Zählen nicht herum. Wenn man den Willen der Mehrheit zum staatspolitischen Richtmaß erhebt, dann braucht man zuverlässige Methoden, um die Mehrheit numerisch zu ermitteln. Kurz gesagt: Wahlen beruhen auf Zahlen. Es ist kein Wunder, dass die USA als größte Demokratie der Welt auch in Demographie und Demoskopie führend sind. Seit 1790 wird dort alle zehn Jahre die Bevölkerung gezählt, um die politische und finanzielle Binnenstruktur der Nation an rationalen Kriterien zu orientieren. Zwar gibt es statistische Methoden, alte Daten in die Zukunft zu extrapolieren und Stichproben hochzurechnen, aber wenn man das – wie in Deutschland – zu lange macht, sammeln sich dadurch enorme Fehler an.

Seltsam: Zum einen sind wir Deutsche für die Genauigkeit, ja Pingeligkeit unseres Verwaltungsapparates weltberühmt, zum anderen aber ist die Aktenlage, das Fundament jeglichen Verwaltungshandelns, dürftig, löchrig und irrig. Statt die tatsächlichen Zustände widerzuspiegeln, führen die zerschlissenen Statistiken ein unheimliches Eigenleben. Seit 30 Jahren arbeitet ein ins Verschrobene entstellter Bürgersinn gegen jedwede behördliche Volkszählung hierzulande an. 1983 verhinderte das Bundesverfassungsgericht einen geplanten Zensus, 1987 wüteten mehr als tausend Bürgerinitiativen dagegen, weil sie den sogenannten Überwachungsstaat verhindern oder einfach zivilen Ungehorsam üben wollten.

Unser zwiespältiges Verhältnis zum Staat lässt sich historisch und sozialpsychologisch relativ leicht erklären. Aber wie erklärt sich die spezielle Besessenheit der meisten Deutschen mit dem Persönlichkeitsrecht, sei es im Zusammenhang mit Google Street View, mit einer Volkszählung oder mit irgendeiner Form von Datenspeicherung? Von grundsätzlich liberaler Art scheint der Protest ja nicht zu sein, denn dass der Staat sogar gestohlene Daten zur Überführung von Steuersündern ankauft, findet zugleich weitgehende Zustimmung.

Der Begriff "Daten" gehört einfach zu den wichtigsten modernen Reizwörtern. Niemand ohne Informatikstudium weiß wirklich, was sich mit Daten alles anstellen lässt. Aber eine vage Vorstellung von Bedrohlichkeit hat jeder. Gerade dieses Unverstandene bewirkt, dass in diesem Thema alle urdeutschen Ängste vor der Entwicklung der Technik kondensieren. Sicher ist bloß: Daten sind irgendwie wertvoll. Seitdem die Menschen das erkannt haben, rücken sie das Wertvolle nur gegen sehr viel "Bitte, bitte!" heraus. Im Grunde eine verständliche Reaktion. Die ganzen geschraubten Debatten um den gläsernen Bürger muss man dafür wohl in Kauf nehmen.


Burkhard Müller-Ullrich, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin "Bücherpick" und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk. Er ist Mitglied der Autorengruppe "Achse des Guten", deren Website www.achgut.de laufend aktuelle Texte publiziert.
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