Das verlorenste Land der Welt

Im Jahr 2008 erhielt der afghanische Schriftsteller Atiq Rahimi den wichtigsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt. Mit "Verflucht sei Dostojewski" schreibt er nun gegen den Terror in seiner Heimat an.
Afghanistan ist vielleicht das verlorenste Land der Welt, ein Land jedenfalls, in dem seit Menschengedenken Krieg herrscht. Die Weltöffentlichkeit schüttelt traurig den Kopf über die immer neuen Fernsehbilder von Anschlägen - aber eine Vorstellung vom Leben in Afghanistan vermitteln die Nachrichtenbilder nicht.

Der aus Afghanistan stammende, 1984 von dort geflohene Autor Atiq Rahimi hat jetzt ein erschütterndes Buch über das alltägliche Leben seiner Landsleute im Bürgerkrieg vorgelegt: "Verflucht sei Dostojewski", zuerst in Frankreich erschienen, wo Rahimi inzwischen lebt, jetzt von Lis Künzli mit Umsicht ins Deutsche übersetzt.

Rahimis Roman spielt zwar nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989, wonach Afghanistan in einen Bürgerkrieg stürzte – aber so viel anders ist die Lage ja leider bis heute nicht.

Rahimi beschreibt ein Land, in dem ein Menschenleben nichts gilt, in dem die Männer nur wählen können, auf der einen oder der anderen Seite zu kämpfen und die Frauen sich prostituieren, um ihre Familien zu ernähren.

Der Protagonist Rassul wirkt an diesem Schauplatz wie ein reiner Tor: Politische Ideologien sind ihm zuwider, aus den starren familiären Banden hat er sich nach Kräften gelöst. Die Mitbewohner seines kleinen Zimmers, für das er seit Monaten die Miete nicht zahlen kann, sind die Säulenheiligen der russischen Literatur, allen voran Dostojewski.

Rassul hat in der Sowjetunion Jura studiert und möchte nun seine Verlobte Suphia heiraten. Sie arbeitet bei einer alten Wucherin und Puffmutter, und um Suphia von allen Zwängen zu befreien, bringt Rassul die alte Frau um. Doch im Moment, als er das Beil hebt, durchzuckt ihn der Gedanke an Raskolnikow aus Dostojewskis "Verbrechen und Strafe", und er vollbringt zwar den Mord, läuft aber ohne Geld und Schmuck davon (u.a. daher der Titel des Romans).

In den Tagen danach wartet Rassul auf seine Festnahme, sehnt sich geradezu nach Bestrafung für sein Verbrechen, doch niemand vermisst die alte Frau. Sogar als er sich schließlich selbst anzeigt, interessiert das keinen - der Mord an einer alten Wucherin zählt nicht im Afghanistan der frühen 90-er. Rassul, ohnehin schon ein Außenseiter, verliert völlig das Verhältnis zur Wirklichkeit, symbolisiert unter anderem durch vorübergehende Stummheit.

Indem Atiq Rahimi den Dostojewski-Roman nach Afghanistan verlegt, will er sich nicht am Vorbild messen, sondern sich eher verneigen. Rahimi hat das Handlungsgerüst von "Verbrechen und Strafe" übernommen, aber er variiert die Vorlage selbstbewusst, indem der Erzähler (oder Stimmen in Rassuls Kopf?) sich zum Beispiel immer wieder über den Protagonisten lustig macht, weil er sich mit einer Romanfigur vergleicht – ein raffiniertes literarisches Spiel.

Atiq Rahimis atmosphärisch dichte Beschreibungen bleiben wie ein permanentes filmisches Close-up ganz nah bei Rassul, bei seinen Erlebnissen und philosophischen Überlegungen. Je orientierungsloser Rassul wird, desto düsterer werden auch die Beschreibungen Afghanistans, das bald ganz in Pulverdampf und Schutt versinkt. Die knappe Sprache, die fast ohne Adverbien und Adjektive auskommt, spiegelt die überreizten Sinne des Protagonisten und die aufgeheizte Atmosphäre der Umgebung.

Als Atiq Rahimi 2008 den wichtigsten französischen Literaturpreis Prix Goncourt für "Stein der Geduld" erhielt, sagte er, Afghanistan symbolisiere für ihn den Terror der Welt, und solange das so sei, werde er darüber schreiben. Er hat noch viel zu tun.

Besprochen von Dina Netz

Atiq Rahimi: "Verflucht sei Dostojewski"
Aus dem Französischen von Lis Künzli
Ullstein Verlag, 288 Seiten, 19,99 Euro


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