Das Leid der Verschickungskinder

Aufarbeitung steht noch am Anfang

08:46 Minuten
Kinder sitzen am Rande einer Sporthalle, vor ihnen steht eine Erzieherin.
Für einige Kinder war der Kuraufenthalt angenehm, für zahlreiche andere zur Tortur: Sportunterricht in einem Kindersanatorium © imago / Werner Schulze
Heiner Keupp im Gespräch mit Nicole Dittmer · 10.06.2021
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Zur Erholung wurden Kinder bis in die 70er in Kurheime verschickt, mussten dort Prügel, Isolierung, Demütigung ertragen. Sozialpsychologe Heiner Keupp fordert eine umfangreiche Aufarbeitung. Auch über Entschädigung müsse gesprochen werden.
In den 1950er- bis zu den 70er-Jahren schickten Eltern ihre Kinder oft auf Kur. Doch in den Heimen wurden die sogenannten Verschickungskinder oft gequält und gedemütigt. Betroffene berichten von drakonischen Strafen, Prügel und schweren Demütigungen. Doch erst 2019 habe die systematische Aufarbeitung des Themas begonnen, sagt die Autorin Anja Röhl, Vorsitzende des Vereins "Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickung".
Weswegen aber so spät? In den frühen 50er-Jahren wären Stadtkinder unter schweren Bedingungen groß geworden: Hunger, Kälte, kaputte Familien, sagt der Sozialpsychologe Heiner Keupp. Er ist Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und hat unter anderem die Missbrauchsfälle im Kloster Ettal und in der Odenwaldschule wissenschaftlich untersucht.

Nazi-Ideologie unter den Erzieherinnen und Erziehern

Die Familien hätten ihre Kinder also in der Hoffnung in die Heime geschickt, dass es ihnen dort gut gehe, sie ausreichend Essen bekommen würden – sowie Urlaub, den sich die Familie sonst nicht hätte leisten können. "Wenn es dann überhaupt nicht eingehalten wurde, war es nicht ganz einfach für die Kinder, das den Eltern zu sagen. Denn die Eltern waren sich ja – glaube ich – keiner Schuld bewusst", so Keupp.
Die Erzieherinnen und Erzieher seien damals aber auch in den Verschickungseinrichtungen überwiegend nazigeprägte Nonnen, Schwestern, Erzieherinnen und Mediziner gewesen, betont Keupp. "Ein Teil dieser Heime wurden von Ärzten geleitet, die an der Euthanasie beteiligt waren, also an dem Mord von Kindern. Sie haben die gleichen Naziideologien noch in ihren Köpfen gehabt."

Ersten Schritte zur Aufarbeitung

Nun aber ist der erste Schritt hin zur Aufarbeitung gemacht: "Das Wichtigste ist, dass hier eine Gruppe von Betroffenen angefangen hat, sich selber um dieses Thema zu kümmern und dafür die Öffentlichkeit herzustellen. Das ist in allen Aufarbeitungsprojekten, an denen ich beteiligt war, die eigentlich entscheidende Größe", betont Keupp. "Das ist hier auf jeden Fall schon einmal der Anfang."
Nun müssen sehr konkrete Erholungsheime mit ihren Trägern konfrontiert werden: "Was ist damals wirklich abgelaufen? Seid ihr bereit, den ehemaligen Verschickungskindern auch wirklich zuzuhören? Das ist vielleicht die absolut zentrale Bedingung überhaupt."

Anerkennung von Schuld

Auch ein Runder Tisch mit allen Beteiligten – darunter Kirchen, Kommunen und privaten Träger – könnte ins Leben gerufen werden, so Keupp. "Das ist der erste Schritt. Dann wird man nicht nur große Forschungsthemen definieren müssen. Man wird natürlich vor allem auch so etwas wie Entschädigungsleistungen zum Thema machen müssen."
Die Anerkennung von Schuld sei dabei "das A und O", betont Keupp. "Das muss klar zum Thema gemacht werden."
(lkn)
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