"Das ist wirklich unfassbar"

Sebastian Edathy im Gespräch mit André Hattig · 12.05.2012
Der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses Sebastian Edathy hat das Kompetenzgerangel der Bundesländer bei der Aufklärung der Mordserie des NSU scharf kritisiert. Die Ermittlungen seien "zum Teil dilettantisch" gewesen. Seit Donnerstag werden die Ermittlungsfehler im Bundestag untersucht.
André Hattig: Im November flogen die Rechtsterroristen des nationalsozialistischen Untergrunds NSU auf - eher zufällig: Zehn Morde soll die Bande in Deutschland verübt haben. Die Ermittler waren jahrelang in der falschen Richtung unterwegs. Klare Hinweise auf ein ausländerfeindliches Motiv nahmen sie nicht richtig ernst.

Allein die Hälfte der Morde wurde in Bayern begangen, seit Donnerstag steht deshalb die Arbeit der bayrischen Behörden im Mittelpunkt des Bundestags-Untersuchungsausschusses. Deren Vorsitzender ist der SPD-Abgeordnete Sebastian Edathy. Guten Morgen, Herr Edathy!

Sebastian Edathy: Morgen, Herr Hattig!

Hattig: Das Bundeskriminalamt und die der Länder haben einander gegenseitig behindert. Der damalige Bundesinnenminister Schäuble hat sich vom damaligen Innenminister Bayerns, Beckstein, die Einmischung verbieten lassen. Wie bitte? Ausgerechnet Schäuble? Als Außenstehender reibt man sich da verwundert die Augen. Sie sich auch?

Edathy: Wir müssen das rekonstruieren, was damals gelaufen ist. Wir müssen vor allem sehen: Wir hatten 2004 ... da gab es die ersten Diskussionen, auch über eine Beteiligung des Bundes in Form des Bundeskriminalamtes. Da sind fünf Morde bekannt gewesen. Von den fünf Morden hatten sich drei in Bayern ereignet. Damals ist vom Bundeskriminalamt schon gesagt worden: Wir sehen da einen Zusammenhang, wir möchten uns beteiligen bei den Ermittlungen.

Damals, 2004, scheint es so gewesen zu sein, dass die Länder sogar sich vorstellen konnten, das Bundeskriminalamt kriegt die federführende Zuständigkeit. Da hat aber das Bundeskriminalamt selber gesagt, es gibt wohl eine Massierung der Fälle in Bayern, sie wären einverstanden, wenn sie sich beteiligen bei den Ermittlungstätigkeiten, aber nicht die Koordinierung kriegen. Zwei Jahre später scheint das ganz anders gewesen zu sein: 2006 gab es insgesamt neun Morde, alle mit derselben Waffe begangen.

Mittlerweile waren fünf Bundesländer betroffen, neben Bayern vier weitere, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Hessen. Und da hat das Bundeskriminalamt in der Tat auch über den Präsidenten Ziercke, der ja nach wie vor heute noch im Amt ist, dem Bundesinnenminister - dem damaligen, Herrn Schäuble - empfohlen: Jetzt brauchen wir die federführende Zuständigkeit in Wiesbaden für das Bundeskriminalamt.

Das ist eine Dimension, die mittlerweile erreicht worden ist in der Mordserie, die ist einmalig in der deutschen Kriminalgeschichte, es kann nicht sein, dass weiterhin da federführende Zuständigkeit von Bayern läuft, wir brauchen als Bundeskriminalamt die Kompetenz und auch das Sagen. Und das ist offenkundig nicht so umgesetzt worden.

Hattig: Weil Günther Beckstein, damals Innenminister in Bayern, gesagt hat, das sei eine Kriegserklärung. Haben Sie dafür Verständnis?

Edathy: Na ja, Hessen hat wohl auch widersprochen. Hessen hat wohl auch widersprochen - also was ich in den Akten finde jedenfalls. Also jedenfalls ist der Eindruck, der sich aufdrängt, dass es eine fachlich, sachlich begründete Empfehlung gab des Bundeskriminalamtes, der aus politischen Gründen sehr wahrscheinlich nicht gefolgt worden ist. Und warum das so war, das wird uns Herr Beckstein in der übernächsten Woche im Ausschuss sagen müssen, das wird uns Herr Schäuble sagen müssen und vielleicht auch weitere Zeugen aus dem Reich der Politik, da bin ich ziemlich sicher.

Hattig: Genau. Das sind die ersten, wenn man so will, politischen Promis, die aussagen werden. Erwarten Sie da wirklich noch eine Aufklärung von den beiden?

Edathy: Na ja, also es ist ... Ich will es mal so formulieren: Auch, wenn das Bundeskriminalamt die Federführung übernommen hätte, wäre das keine Garantie gewesen, dass man dann doch dieser Zwickauer Terrorzelle möglicherweise auf die Spur gekommen wäre. Es wäre keine Garantie gewesen, aber ich glaube, es wäre eine Grundlage gewesen für eine professionellere Arbeit, denn das ist das, was mich am meisten entsetzt hat gestern und vorgestern im Bundestags-Untersuchungsausschuss: Ich glaube, dass die Art und Weise, wie organisiert worden ist, wie man die Ermittlungen führt, dass das zum Teil dilettantisch war, dass das sehr defizitär war. Man hat nämlich, anders als uns das bisher dargestellt worden ist, auch durch den Leiter der damaligen BAO Bosporus, die da im Namen von Bayern auch länderübergreifend die Koordinierung gemacht hat, man hat mit keinem vernünftigen Ansatz beide Überlegungen, die man hatte, 2006 - nämlich zum einen Hintergrund organisierte Kriminalität, zum anderen Hintergrund mögliches rassistisches, fremdenfeindliches Motiv -, man hat diese beiden Ansätze keineswegs mit gleicher Wertigkeit verfolgt, sondern hat sich, ich würde mal sagen, zu 80 Prozent konzentriert auf das Thema organisierte Kriminalität, also wie wir heute wissen, die falsche Spur.

Und beim Thema Ermittlungen in Richtung rechte Szene hat man, ich will das mal sehr zurückhaltend sagen, hat man sehr viel weniger Akribie und Intensität bei der Arbeit an den Tag gelegt.

Hattig: Weil die Oberstaatsanwaltschaft überfordert war, oder weil sie auch parteiisch war?

Edathy: Die Staatsanwaltschaft hat sich gar nicht offenkundig eingemischt, das war unser Eindruck. Also der zuständige Staatsanwalt, der eigentlich geleitet ... hätte müssen, der war reaktiv - das war eher ein Notar als jemand, der sich da verantwortlich gefühlt hat, das ist sehr deutlich geworden …

Das Problem war mit der Ermittlung in rechte Szene, also was ja die richtige Spur gewesen wäre, dass man folgende Situation hatte: Es gab 2006 neun Morde an aus dem Ausland stammenden Kleinunternehmern in fünf Bundesländern. Und es gab dann einen Profiler, den haben wir auch gehört am Donnerstag, Herrn Horn, der 2006 die Theorie entwickelt hat, nachdem er sich lange konzentriert hatte auf die Überlegung organisierte Kriminalität, Täter im Umfeld der Opfer, der dann die Theorie entwickelt hat: Es könnte sich auch um einen Einzeltäter oder um zwei Täter handeln mit Bezug zur rechten Szene, die Ausländerhass aufweisen.

Und als man dann diese Überlegung präsentiert bekommen hat, hat man auch in die Richtung ermittelt, allerdings hat man dann gesagt - und das finde ich völlig unverständlich, absolut unverständlich -, hat man dann gesagt: Okay, wir haben neun Morde in fünf Bundesländern, von den neun Morden haben sich drei in Nürnberg ereignet, und jetzt suchen wir nur in der rechten Szene im Großraum von Nürnberg.

Das ist das, was man gemacht hat. Man hat weder bayernweit, man hat auch nicht bundesweit recherchiert in Sachen Rechtsextremismus, man hat sich beschränkt auf den Großraum Nürnberg, übrigens wohl insbesondere deshalb, weil das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz nicht bereit war, Daten über den Großraum Nürnberg hinaus zur Verfügung zu stellen.

Hattig: Dann wäre ...

Edathy: Und da muss ich wirklich sagen: Das ist unfass ... Das ist wirklich unfassbar.

Hattig: Herr Edathy, was folgert für Sie daraus? Tatsächlich, dass man die Kompetenzen neu aufteilt, wie jetzt zu hören war, oder eher - Sie haben vorhin das Wort "Dilettantismus" in den Mund genommen -, oder eher, dass man da anderes Personal braucht, dass unfähige Leute am Werk waren?

Edathy: Ich kann das noch nicht abschließend beurteilen, will ich auch nicht. Ich will erst mal die weiteren Zeugen hören, wie es genau gelaufen ist, warum man zu dieser Entscheidung gekommen ist. Wir leben in einem föderalen Bundesstaat, das heißt, natürlich haben wir auch eine Kompetenz im Sicherheitsbereich der Länder. Aber Kompetenz und Kompetenz muss da Hand in Hand gehen, also Zuständigkeit und auch die Möglichkeit, fachlich und professionell die Aufgaben, die man hat, umsetzen zu können.

Ich finde es jedenfalls hochgradig verwunderlich, dass damals nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht worden ist, dem BKA die federführende Kompetenz und Zuständigkeit zuzuweisen. Die Möglichkeit wäre rechtlich da gewesen, ganz offenkundig hat man ... Ich sage mal, es gibt ein gewisses Eigendenken offenkundig im Länderbereich, und egal, ob man kompetent ist oder nicht - Hauptsache, man hat die Zuständigkeit. Das kann aber nicht der Maßstab und die Marschroute sein.

Hattig: Verwunderlich ist wahrscheinlich noch sehr milde ausgedrückt. Das war Sebastian Edathy, der SPD-Politiker leitet den Untersuchungs-Ausschuss des Bundestages zu den Morden der Rechtsterroristen. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Edathy!

Edathy: Sehr gerne!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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