Das ist eine "politisch gefährliche Situation"

Moderation Joachim Scholl · 21.01.2013
In den letzten Jahren hat sich das Privatvermögen der oberen drei Prozent in Deutschland von 4,5 auf 9,5 Billionen Euro vermehrt. Wenn die Politik nicht Kapitaleinkünfte härter besteuert und die Vermögenssteuer wieder einführt, könnte ein "heikler Gefahrenpunkt" erreicht werden, sagt der Historiker Hans-Ulrich Wehler.
Joachim Scholl: Elf verlorene Landtagswahlen in Folge – denkbar knapp! Aber dennoch hat auch die schwarz-liberale Regierungskoalition in Niedersachsen ihre Mehrheit eingebüßt. Warum wenden sich anscheinend immer mehr Menschen von CDU und FDP ab? Unter den vielen parteispezifischen Analysen des gestrigen Abends fiel uns eine Umfrage auf, wonach 50 Prozent der befragten Wähler eine zunehmende soziale Ungerechtigkeit in unserem Land verspüren. Die Hälfte der Bevölkerung also! Mit diesem Thema der sozialen Ungleichheit hat sich der Historiker Ulrich Wehler in jüngster Zeit intensiv beschäftigt, im Februar erscheint sein neustes Buch, "Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland". Hans-Ulrich Wehler ist jetzt am Telefon, guten Tag!

Hans-Ulrich Wehler: Guten Tag!

Scholl: Stimmen Sie dieser These zu, Herr Wehler, immer mehr Menschen verspüren das Gefühl sozialer Ungerechtigkeit und machen dafür auch die Regierung von CDU und FDP mit verantwortlich?

Wehler: Ja, ich stimme dem voll zu. Wir sind das einzige europäische Land, das in den letzten neun Jahren stagnierende Realeinkommen hat. Sie müssen sich mal vorstellen, dass das bedeutet, dass in allen anderen Ländern, Frankreich, Holland, Schweden, England die Einkommen gestiegen sind, nur bei uns stagnieren sie. Das ist natürlich eine der Grundlagen des Exporterfolges, weil wir auf die Weise sozusagen mit billigen Waren auf den Weltmarkt vorstoßen können. Aber was das bedeutet für fast 40 Millionen Berufstätige, und da sind inzwischen acht Millionen mit Minijobs und Teilzeitarbeit beschäftigt, also ein enorm angestiegener Anteil, und das breitet sich nun wirklich aus als ein tiefes Unbehagen. Und ich glaube, dass das eine politisch gefährliche Situation ist.

Scholl: Nun heißt es schon seit Langem, die soziale Schere in Deutschland öffnet sich immer weiter. Das ist aber auch so eine Floskel geworden, Herr Wehler, für die einen haben zu viel, zu viele haben zu wenig. Hat sich die soziale Realität in Deutschland wirklich so dramatisch verändert oder ist das auch nur unsere sensiblere Wahrnehmung von, ja, Hartz-IV-Schicksalen und Minijobbern und Leuten, die sozusagen dennoch, obwohl sie Arbeit haben, alimentiert werden müssen auf der einen Seite, und exorbitanten Manager-Gehältern auf der anderen?

Wehler: Ja, es ist eine eklatante Kluft, auf die diese Vorstellung von der Einkommensschere abzielt. Ich nenne Ihnen mal nur ein Beispiel: Vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten verdienten die DAX-Vorstände, also die Vorstände der 30 größten deutschen börsennotierten Unternehmen, etwa 580.000 D-Mark im Jahr, und keiner von ihnen ist verhungert. 20 Jahre später verdienten sie sechs Millionen Euro, das waren zwölf Millionen D-Mark, und hinzu kamen in einem ganz unerwarteten Maße noch Boni- und Aktienoptionen und sogenannte Betriebsrenten. Das erzeugt eine Kluft, dass ich mich immer wundere, warum die Diskussion darüber nicht längst leidenschaftlicher ist.

Scholl: Sie sprechen in Ihrem Buch, Herr Wehler, von einer Veränderung der Mentalität, mit der die soziale Realität wahrgenommen und verarbeitet wird. Wie sieht diese Veränderung aus? Dass wir eben immer zorniger werden, wenn wir so etwas hören?

Wehler: Diese Mentalitätsargumentation, die ist deshalb schwierig, weil wir sehr wenige zuverlässige Umfragen haben, durch die Mentalitätsveränderungen ermittelt werden. Also, es könnte ja zum Beispiel die Ebert-Stiftung oder andere Stiftungen könnten mal genauer ermitteln, wie da die mentalen Zustände sind. Aber das, was wir wissen, zeigt, dass sich in den letzten Jahren sozusagen ein schleichendes Missbehagen herausgebildet hat, und die Frage ist: Wann erreicht das sozusagen eine politische Gefahrengrenze, dass man politisch reagieren muss?

Scholl: Welche Gefahr sehen Sie hier?

Wehler: Ich sehe die Gefahr, dass, wenn Sie zum Beispiel das Steuerwesen nicht endlich reformieren und dass nicht endlich Kapitaleinkünfte härter besteuert werden als das Einkommen aus Arbeit, und wenn nicht endlich wieder eine Vermögenssteuer eingeführt wird – wir sind der einzige europäische Staat, der sich den Luxus leistet, sie nicht zu haben –, wenn man das sozusagen der Reihe nach durchdekliniert, dann sieht man, dass sich sozusagen ein scharfes Gefälle auftut. Und natürlich kann man nie genau sagen, wann der wirklich heikle Gefahrenpunkt erreicht ist, aber mir scheint so in den letzten zwei Jahren das Verständnis für diese Situation und damit auch sozusagen die mentale Unzufriedenheit zu wachsen.

Scholl: Soziale Ungleichheit in Deutschland, wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Historiker Hans-Ulrich Wehler. Herr Wehler, Sie haben einst das soziologische Modell vom Fahrstuhl entworfen, in dem breite Schichten in Deutschland vom Wohlstand profitieren und gesellschaftlich aufsteigen. Die Bildungsreform der 70er-Jahre und entsprechende Karrieren waren ja paradigmatisch. Warum ist, um im Bild zu bleiben, diese Entwicklung, dieser Fahrstuhl stecken geblieben?

Wehler: Also, das Bild vom Fahrstuhl stammt aus dem späten 19. Jahrhundert, da hat ein berühmter deutscher Ökonom, Werner Sombart, eine Geschichte der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft geschrieben. Und da hat er diesen Ausdruck gebraucht, weil das damals eine neue Erfindung war. Und dann ist sie von Soziologen wie Ulrich Beck und so weiter wieder aufgegriffen worden. Es geht darum, dass wir in einer hochgradig mobilen Gesellschaft leben, in der sich ständig sozusagen auch Aufwärtsmobilität durchsetzt, dass wir aber auch auf der anderen Seite relativ breite Bevölkerungskreise erleben, die gar nicht in den Fahrstuhl treten und in ihn hineingelangen können, der sich nach oben bewegt.

Und deshalb haben wir sozusagen einen relativ massiven Block an Armut und wir haben eine Stagnation in den Einkommen der mittleren Klassen. Nur, das absolut Rasante ist die Aufwärtsbewegung nach oben. Also, im kastrierten Einkommens- und Reichtumsbericht, den Rösler torpediert hat, da befand sich die interessante Auskunft, dass das Privatvermögen in den letzten fünf Jahren der Berichtszeit für diesen Bericht sich vermehrt habe von 4,5 auf 9,5 Billionen. Das ist eine solche Vermehrung, wie es sie selbst in den schlimmsten Zeiten der Währungsreform nicht gegeben hat. Wo sind die gelandet: Bei den oberen drei Prozent der Bevölkerungshierarchie. Sie haben sich nicht in so einem Streueffekt über die ganze werktätige Bevölkerung voll verteilt.

Scholl: In diesem Zusammenhang, weil Sie gerade das Wort sagen von der werktätigen Bevölkerung: Früher sagte man, sprach man ja mal von der Klasse, von der Arbeiterklasse, und Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch wieder sich für diesen Begriff aus. Bräuchten wir wieder ein stärkeres Klassenbewusstsein? Sie polemisieren dagegen, dass die Politik sämtliche Klassen und Schichten eigentlich wegargumentiert habe, so tut, als ob es das nicht gäbe. Was ist an der alten Klasse so attraktiv und würde auch wieder, ja, triftig werden für eine Diskussion?

Wehler: Also, die Deutschen sind ja etwas besessen, was den Umgang mit der Klassensprache angeht, und glauben immer noch, das sei ein böser, nazistischer Wortschatz. In allen anderen Sozialwissenschaften, England, Frankreich, Amerika, wird der Klassenbegriff ganz unbefangen gebraucht. Und ich glaube schon, dass man mit solchen Begriffen wie Besitzklasse oder Erwerbsklasse ganz nüchtern umgehen kann, und ich glaube auch, dass sich diese Klassenphänomene in der Bundesrepublik in der letzten Zeit wieder schärfer ausgebildet haben.

Scholl: Welchen politischen Schluss müssen denn die Parteien Ihrer Meinung nach aus dieser Entwicklung einer auch, wie Sie sagen, wie Sie es nennen, exzessiven Hierarchisierung ziehen, das heißt also, dass wirklich Oben und Unten immer schärfer voneinander getrennt sind? Sie sagen, die soziale Gerechtigkeit, das wird der Dauerbrenner der innenpolitischen Diskussion in den kommenden Jahren sein?

Wehler: Ja, also, das ist natürlich ein heikles Problem und gar nicht leicht zu lösen. Aber man kann zum Beispiel im Steuersystem eine Menge reformieren und damit sozusagen auch Ungleichheit etwas nivellieren. Man kann in einem ganz anderen Bereich, auf den wir noch gar nicht zu sprechen gekommen sind, das ist im Augenblick die gesetzliche Fixierung einer Frauenquote in Vorständen und Aufsichtsräten der Großunternehmen. Da ist Herrn Rösler auch wieder gelungen, das zu torpedieren.

Und wir haben jetzt sozusagen eine Wischiwaschiflexibilität, die den Frauen aber wirklich den Aufstieg in die höheren Positionen nicht erleichtert. Nun muss man sich klarmachen: Wir haben an den Universitäten und höheren Schulen in der letzten Zeit einen massiven Prozess, in den Jahren seit etwa 1994 gibt es allmählich mehr Abiturientinnen als Abiturienten, erheblich mehr Studentinnen als Studenten, und diese Studentinnen machen auch bessere Examina mit besseren Noten.

Von den 2,2 Millionen Studierenden sind 1,2 Millionen junge Frauen, die sehr gut ausgebildet sind, und die jetzt – das muss man auch mal endlich wahrnehmen – mit einer großen Wucht auf den Arbeitsmarkt vorstoßen. Und da will man ausgerechnet tüchtigen Frauen verbieten und sozusagen die Sperrblockaden weiter bestehen lassen, dass sie in höhere Positionen zum Beispiel in den Unternehmen aufsteigen können! Das muss auf die Dauer sozusagen einen tiefen Widerwillen auslösen. Und ich glaube, dass das sozusagen gefährliche politische Spannungen erzeugt!

Scholl: Über die Mentalität und die politischen Konsequenzen zunehmender sozialer Ungerechtigkeit, das war der Historiker Hans-Ulrich Wehler. Sein Buch, "Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland", erscheint am 11. Februar im C.-H.-Beck-Verlag. Besten Dank für das Gespräch, Herr Wehler!

Wehler: Danke, Ihnen auch!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.