"Das ist eine ganz fantastische Evolutionsstory"

Josef Reichholf im Gespräch mit Dieter Kassel · 07.05.2009
Nach Meinung des Evolutionsbiologen Josef Reichholf diente die Entwicklung eines Federkleids bei Vögeln anfangs nicht dem Fliegen. Die Tiere hätten mit der Ausbildung von Federn giftige Stoffwechselprodukte verarbeitet. Gleichzeitig hätten die Federn für eine gute Isolierung gesorgt und es den Vögeln so ermöglicht, auch in kältere Regionen vorzudringen. Das Fliegenkönnen sei eher ein Zufallsprodukt der Evolution.
Dieter Kassel: Jetzt, ausgerechnet im Darwin-Jahr, ist natürlich viel die Rede von den Finken von Galapagos. Die sind nicht unwichtig für die Entwicklung der Evolution, denn deren unterschiedliche Schnabelformen haben Charles Darwin erst so richtig auf die Idee gebracht. Was aber hier und heute die Evolution von Vögeln angeht, so gibt es ganz andere interessante Entwicklungen, denen die Wissenschaftler zum Teil erst in den letzten Jahren - ziemlich aktuell - auf die Schliche gekommen sind. So weiß man inzwischen, dass viele unserer heute bekannten Vögel die direktesten noch lebenden Verwandten der Dinosaurier sind, neben den Reptilien, was man schon etwas länger weiß. Wir wollen darüber jetzt in unserer Vogelwoche hier im Deutschlandradio Kultur mit dem Evolutionsbiologen Professor Josef Reichholf sprechen. Schönen guten Morgen, Herr Reichholf!

Josef Reichholf: Guten Morgen!

Kassel: Das ist zwar für Leute, die es wirklich wissen wollen, nicht brandneu, für mich immer noch erstaunlich: diese Verwandtschaft zwischen Vögeln und Dinosauriern. Kann man soweit gehen und sagen: Dinosaurier - damals, vor 65, 70 Millionen Jahren - waren im Grunde genommen so eine Art Vogel?

Reichholf: Nein, beide haben gemeinsame Wurzeln. Die Vogelwelt als Spross des großen Komplexes der Dinosaurier ist schon eine eigenständige Entwicklung. Aber die Vögel sind, verglichen mit anderen Reptiliengruppen oder mit den Säugetieren, sehr viel näher mit den Dinosauriern verwandt und mit einer weiteren Gruppe, wo man es noch weniger vermuten würde, näher mit den Krokodilen verwandt als mit irgendeiner anderen Echsengruppe.

Kassel: Wieso ist ein Vogel - und wir reden ja zum Teil von Arten, die heute noch so ähnlich existieren, die wir kennen, die wir sehen, gerade um diese Jahreszeit -, wieso ist ein Vogel mit Reptilien verwandt, von Dinosauriern ganz zu schweigen?

Reichholf: Nun, auch wir Säugetiere stammen aus dem Grundstock der Reptilien, aber die Wege, die zu den Säugetieren führten und die anderen Wege, die zu den Vögeln führten, hatten sich sehr frühzeitig schon getrennt. Im Grunde genommen sind wir alle - die Reptilien, die Säugetiere und die Vögel - Abkömmlinge von vierfüßigen Lebewesen, die aus dem Wasser, also aus einem amphibienartigen Zustand stammen und an das Land gegangen sind. Bei diesem Landgang setzte sehr frühzeitig eine unterschiedliche Entwicklung ein, eine Aufspaltung in verschiedene Richtungen, und eine davon führte eben zu den Säugetieren, das ist die konservativere, denn um einen wichtigen Vergleich gleich vorneweg zu bringen:

Wie die Reptilien, wie alle Reptilien, die heute noch leben, haben die Säugetiere - und damit auch wir Menschen - eine paarige Sacklunge, also eine Lunge aus zwei Teilen bestehend, zwei Lungenflügeln, die aber blind enden, wie Säcke, die mit Luft aufgeblasen und dann wieder, wenn die Luft herausgepresst wird, entspannt werden. Diese Form von Atmung ist nicht sonderlich effizient. Bei den Vögeln funktioniert sie ganz anders und wir haben gute Gründe, anzunehmen, dass wahrscheinlich auch bei Teilgruppen zumindest der Dinosaurier dieses andersartige Atmungssystem entwickelt war.

Kassel: Wenn wir jetzt mal zurückgehen, ziemlich genau 65 Millionen Jahre, zu dem Zeitpunkt, wo die Dinosaurier aufgrund eines großen Naturereignisses von der Erde verschwanden - wenn es damals schon Vögel gegeben hat, warum haben die Vögel, anders als die Dinosaurier, diese Katastrophe überlebt?

Reichholf: Wahrscheinlich ist die Antwort dafür das Fliegenkönnen. Sie konnten den ungünstigsten Bereichen ausweichen und an Stellen, wo sozusagen der Impact, dieser Einschlag mit seiner Wirkung nicht ganz so katastrophal war, ausweichen und das waren vor allen Dingen die polnäher gelegenen Gebiete. Wenn wir davon ausgehen - wofür nach wie vor vieles spricht -, dass der Einschlag irgendwo im mittelamerikanisch-tropischen Bereich stattgefunden hatte, dann hat es die Tropenzone am stärksten getroffen. Dort lebten ja auch, weil wechselwarm, die meisten Reptilien, während an den kalten beiden Enden der Erde, also an den südpolaren und in der nordpolaren Bereichen, die Wirkungen des Einschlags aller Wahrscheinlichkeit nach geringer waren. Dorthin konnten die Vögel fliegen.

Kassel: Aber - jetzt habe ich Sie glaube ich erwischt, Professor Reichholf - wenn das so ist, wenn also der Meteorit irgendwo in Äquatornähe einschlug und die Vögel konnten weg, die Dinosaurier nicht, was ist dann mit den Flugsauriern? Die hätten doch eigentlich auch verschwinden können?

Reichholf: Die sind auch verschwunden. Da ist ja nichts davon übrig.

Kassel: Nein, ich meine verschwinden im Sinne von wie die Vögel, sich vom Äquator aufmachen woanders hin.

Reichholf: Ja, die sind vorher schon ausgestorben und bei den Flugsauriern - die sind gar nicht näher verwandt mit den Vögeln - ist der Flug auf eine ganz andere Art und Weise entwickelt worden, nämlich vergleichbar, sehr unmittelbar vergleichbar dem Flug der Fledermäuse. Wir wissen ja, die Fledermäuse haben häutige Flügel, also Flügel aus Haut, die durchblutet ist, und die ursprüngliche Entwicklung dieser Häute war wohl im Zusammenhang mit der Thermoregulation zu verstehen, also mit dem Abgeben von überschüssiger Körperwärme nach außen.

Das funktioniert über solche durchblutete Hautflächen sehr gut, ist aber genau das Gegenteil bei den Vögeln, die sind ja mit einem Gefieder, das im Prinzip eine permanente Daunenjacke darstellt, nach außen hin thermisch am besten abisoliert. Deswegen sind die Vögel auch in allen Regionen bis hin zum südpolaren Kältepol der Erde aktiv und können dort leben und überleben, während Fledermäuse nur in den Tropen und dann zeitweise in außertropischen Regionen in der warmen Jahreszeit überlebensfähig sind. In der kalten Jahreszeit müssen sie in den Winterschlaf gehen. Sie sind also sehr viel schlechter dran, was Flug und Energiehaushalt anbelangt, als die Vögel.

Und das ist sicherlich bei den fliegenden Reptilien, also bei den Flugsauriern, noch ausgeprägter der Fall gewesen, weil sie mit ihren großflächig häutigen Flügeln auch noch auf ganz bestimmte Windverhältnisse angewiesen waren. Die größeren Formen, die konnten ja wahrscheinlich gar nicht so richtig aktiv fliegen, sondern waren mehr wie Albatrosse auf den Segelflug, auf den Gleitflug angewiesen.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur im Rahmen unserer Vogelwoche mit dem Evolutionsbiologen und Zoologen Josef Reichholf über die Vögel und all das, was vielleicht nicht ganz so ist, wie ich mir das schon wieder vorgestellt habe. Die Lunge haben Sie erklärt, Sie haben fast am Rande das Federkleid jetzt erwähnt, zur Isolierung. Ich habe immer gedacht, dass Vögel deshalb Federn haben, weil die unbedingt notwendig sind zum Fliegen. Isolierung - Wärme, Kälte - verstehe ich auch noch, aber nun ist es offenbar so, dass man zum Fliegen die Federn eigentlich nicht braucht?

Reichholf: Ja, man braucht sie schon, wenn man ein Vogel ist. Mit häutigen Flügeln können, wie wir wissen, Fledermäuse fliegen und flogen auch die Flugsaurier. Aber im Hintergrund ist noch etwas anderes. Am Ursprung der Vogelfeder kann mit Sicherheit nicht das Fliegen gestanden haben, denn eine einfache Vergrößerung von Schuppen, die allmählich erst, in langen Zeiträumen, zu einem flugtauglichen Gefieder werden, sind noch keine Anfangsvorteile gegeben.

Wenn wir dagegen den Aufbau der Feder betrachten: Sie ist ein Gebilde aus Horn, aus Keratin, chemisch gesprochen, das eine ganz besondere Form aufweist, nämlich sehr viele schwefelhaltige Aminosäuren. Und wenn wir berücksichtigen, dass das Federkleid, egal, wie stark es abgenutzt ist oder ob es überhaupt abgenutzt ist, regelmäßig gewechselt wird - die Mauser, nennen wir das bei den Vögeln -, dann kommt ein anderer Aspekt mit ins Spiel. Die Feder ist ein Produkt des Stoffwechsels, und zwar entstanden aus Eiweißüberschüssen, aus Überschüssen von Eiweißbestandteilen, die Schwefel enthalten. Würden die, wie bei Säugetieren, im Körper abgebaut werden müssen, entstünde giftiger Schwefelwasserstoff.

Säugetiere, die sehr eiweißreiche Nahrung zu sich nehmen, produzieren furchtbar stinkende Exkremente - ich nenne die Katzen, insbesondere die Raubkatzen - und sie brauchen lange Zeiten, in denen sie träge und ruhig sind, weil ihr Körper keine anhaltend hohe Aktivität verträgt mit dieser Belastung aus Stoffwechselreststoffen.

Das machen die Vögel viel eleganter. Sie schicken ihren Eiweißüberschuss, gerade die schwefelhaltigen Aminosäuren, in den Aufbau von Federkeratin und mausern diese Federn, wann es im Jahreszyklus an der Zeit ist, während Federn, die sie für den Flug brauchen ... Wenn eine Flugfeder gebrochen ist, dann wird sie gezielt gewechselt. Das übrige Gefieder wird in einem festen Jahresrhythmus ein- oder zweimal ausgewechselt, das heißt: Die Vögel haben eine höchst elegante Entsorgung von giftigen Stoffwechselprodukten viel später dann dazu umfunktioniert, einen Wärmeschutz daraus aufzubauen und schließlich mit den vergrößerten Federn auch die Flugfähigkeit zu erlangen. Das ist eine ganz fantastische Evolutionsstory, die Darwin leider noch nicht hatte wissen können.

Kassel: Ich finde es auch eine fantastische Story bis heute. Ich stelle mir jetzt vor, wenn ich das nächste Mal im Café sitze, unter freiem Himmel, und kriege Vogelkot ab, sage ich mir: Wenigstens ein Tier mit Federn, dann stinkt es nicht so sehr.

Reichholf: So ist es, ja.

Kassel: Dann sage ich mir natürlich auch: Außerdem ist es auch ein nettes Tier, wenn es nicht gerade das macht, was es gemacht hat, weil es ja singen kann. Darauf möchte ich schon auch noch kommen. Das Singen ist heute etwas, wo wir glauben, die allermeisten Vogelarten tun das, das ist ihre Art zu kommunizieren, Partner anzulocken, haben sie wahrscheinlich immer schon gemacht. Haben sie das immer schon gemacht?

Reichholf: Nein, sicher nicht. Gerade die Entwicklung der Singvögel, die wir mit dem Singen zu Recht am meisten in Verbindung bringen, ist eine vergleichsweise junge Entwicklung. Die Singvögel sind erst im Tertiär entstanden, also rund 100 Millionen Jahre nach den Urvögeln, nach der großen ersten Evolution der Vögel, und ihre Spezialität ist eben die Ausbildung eines zweiten Kehlkopfes, des Syrinx, die sie in die Lage versetzt, etwas Ähnliches, im Grundsatz etwas Ähnliches zu fabrizieren wie der Mensch mit seinem Kehlkopf das mit dem Sprachen tut.

Und so, wie sich die Vögel untereinander mit dem Gesang artgemäß verständigen und erkennen können, so unterscheiden wir Menschen uns mithilfe der Sprachen über kulturelle Identitäten. Und diese Parallelität finde ich auch ganz besonders faszinierend, dass die Vogelwelt etwas vorweggenommen hat, das wir Menschen jetzt vermeiden wollen, weil wir eine Art bleiben sollten, damit wir nicht gegeneinander losgehen.