"Das halten die Leute nicht aus"

Stephan Karkowsky im Gespräch mit Sieglinde Geisel · 28.04.2010
Zwar sehne sich der Mensch nach Stille, ohne Vorbereitung halte er eine Stillepause aber gar nicht durch, sagt Sieglinde Geisel, Autorin des Buches "Nur im Weltall ist es wirklich still" anlässlich des heutiges Tages gegen den Lärm.
Stephan Karkowsky: Kostbare Ruhe, teurer Lärm – das ist das Motto des heutigen Tags gegen den Lärm, ausgerufen von der Deutschen Gesellschaft für Akustik e.V. Um genau 14:15 Uhr sind wir von ihr dazu aufgerufen, 15 Sekunden lang zu schweigen und die Stille zu genießen. Die Kulturjournalistin Sieglinde Geisel hat das passende Buch dazu geschrieben, "Nur im Weltall ist es wirklich still". Guten Tag, Frau Geisel!

Sieglinde Geisel: Guten Tag!

Karkowsky: Wir wissen, dass es im Weltall wirklich still ist, aber hören können wir diese Stille nicht, wenn ich den Schluss Ihres Buches vorwegnehmen darf.

Geisel: Ja, ein Weltraumspaziergang, der wird ja nicht mit nackten Ohren unternommen, sonst wären Sie sofort tot. Also die Astronauten sind in einem Raumanzug, der ist dick und gepolstert, und in dem ist es lauter als auf der Erde normalerweise, weil da sind Klimaschutzsachen dabei, es ist Lüftung, es ist einfach Ventilatoren, die rauschen, und offenbar ist also der Lärm im Weltraumanzug einer der großen Stressfaktoren bei den ganzen Unternehmungen.

Karkowsky: Ihr Buch handelt vom Lärm und von der Sehnsucht nach der Stille. Sie erzählen die Kulturgeschichte des Lärms, sagen viel aus über seine soziale Funktion, und immer wieder zitieren Sie dabei Menschen mit Antworten auf die Frage: Was ist für Sie schrecklicher Lärm? Darf ich Ihnen als Lärmexpertin die gleiche Frage stellen?

Geisel: Ja, also für mich ist der schlimmste Lärm schon eindeutig der, der aus den Kopfhörern der anderen dringt, wenn ich in der S-Bahn sitze. Das finde ich … Und zwar weiß ich, dass es nicht nur die Geräusche selber sind – die finde ich auch schon ganz fies, dieses hohe, rhythmische Geknaster, wo man sich schwer davon lösen kann, aber es gibt auch noch eine soziale Komponente wie eben immer beim Lärm –, dass ich finde, wenn Menschen sich in der Öffentlichkeit bewegen und mit mir in einem Raum sind und mir mit diesen Ohrstöpseln zu verstehen geben, dass sie von mir überhaupt gar nichts wissen wollen, aber mir zumuten, dass ich ihre Geräusche sehr wohl wahrnehme, weil jeder weiß ja, dass man das von außen auch hört, dann bin ich da auch echt beleidigt und bin sauer.

Karkowsky: Und Sie haben zunächst mal vermutet, dass es allen anderen Menschen genauso geht, dass sie sagen, ja, der Lärm, der aus Kopfhörern herausdringt. Dann haben Sie andere Menschen gefragt und waren sehr überrascht.

Geisel: Ja, genau. Ich meine, zuerst dachte ich, als ich anfing, die Leute zu fragen – ich kriege immer die gleichen drei, vier Antworten: Was kann es denn alles schon sein? –, und kein einziges Mal habe ich die gleiche Antwort gekriegt. Und ich war also völlig überrascht, wie weit das Spektrum ist. Es kann der leiseste, zarteste Lärm sein, der einen zum Wahnsinn treibt, es kann natürlich der Düsenjet sein, der startet, es gibt aber eben auch Motorradfahrer, die genießen gerade dieses Lärmgefühl, das sie selber erzeugen. Das Spektrum ist überhaupt nicht zu überblicken.

Karkowsky: Definieren wir Lärm also als jegliche Form von störendem Schall, hier wird es dann interessant. Wilhelm Busch hat ja gesagt: Musik wird oft nicht schön gefunden, weil stets mit Geräusch verbunden. Haben Sie denn rausfinden können, was den Unterschied macht, wann etwas stört und wann nicht?

Geisel: Das hängt ganz von der Situation ab, das ist unser Gehirn letzten Endes, das ein Geräusch empfängt und es dann deutet und herausfinden muss, wie es sich zu diesem Geräusch verhält. Das geht natürlich blitzschnell, weil unser Ohr ist ja ein Alarmorgan. In freier Wildbahn hängt davon ab, ob wir erleben. Darum ist auch jedes Geräusch, das uns alarmiert, das also Adrenalinausstoß in uns auslöst, ist eben Lärm. Und darum ist Lärm auch so etwas Störendes und so etwas, was unser ganzes Leben so beeinträchtigen kann, weil wir theoretisch immer so reagieren, als würde es um Leben und Tod gehen.

Karkowsky: Und die Lärmempfindlichkeit jedes Menschen ist ganz anders?

Geisel: Das kann sich immer verändern. Also im Lauf des Tages, im Lauf des Lebens, wenn Sie zum Beispiel übermüdet sind, sind Sie viel lärmempfindlicher, als wenn Sie ausgeruht sind. Wenn Sie traurig sind, sind Sie lärmempfindlicher, als wenn Sie sich freuen und dann auch selber gerne Lärm machen, indem Sie rumlaufen und jubeln oder singen oder was auch immer tun. Und ich meine, mit dem Verhältnis zum Lärm kann sich auch die Lärmempfindlichkeit eben verändern. Wenn man versteht, warum ein Geräusch einen alarmiert, dann ist der erste Schritt schon getan, um sich davon zu lösen.

Karkowsky: Was haben Sie denn über die Lärmgeschichte rausgefunden, hat sich die Einstellung zum Lärm über die Jahrhunderte geändert? Also gab es vielleicht mal eine Zeit, in der die Menschen sehr, sehr gerne an lärmenden Plätzen gewohnt haben?

Geisel: Das kann man so nicht sagen. Es gibt auch nicht sehr viele Zeugnisse darüber, das wäre rein spekulativ. Vor allem ist es ja so, dass man über Lärm nur spricht, wenn er einen stört. Also falls es diese Zeit gegeben hat, darf man nicht erwarten, dass man lauter Tagebucheinträge hat und sagt, wie genieße ich den Lärm, der von draußen reindringt. Es ist halt so, dass schon in den 20er-Jahren dieser Diskurs anfing oder schon in den 10er-Jahren mit Theodor Lessing gegen den Lärm. Man hat also dann eine sehr klare Aussage, wie schrecklich es ist, dass man dem Lärm ausgesetzt ist, das ist natürlich viel klarer spürbar. Das heißt aber nicht, dass es jetzt im Mittelalter die Leute nicht gestört hätte, wenn Lärm ist, wir haben nur keine Zeugnisse davon.

Karkowsky: Und welche Bedeutung hat denn die Lautstärke eigentlich für den Lärm? Ist lauter Lärm also immer nervtötender als leiser Lärm?

Geisel: Überhaupt nicht, das kommt eben ganz drauf an, wie wir den interpretieren. Es gibt sogar lauten Lärm, den wir haben wollen. Also wenn ich in die Disko gehe Samstag abends, dann wäre ich völlig enttäuscht, wenn es da nicht laut ist. Weil dieser laute Lärm eben auch was Entgrenzendes hat, was eben auch eine Lust ist, also sich mal ausleben, mal richtig die Sau rauszulassen, das muss ja dann auch mal möglich sein. Und der leise Lärm kann natürlich, wenn ich den Nachbarn nicht abkann, der da schon wieder irgendwie – das kann ein ganz leises Gerät sein, womit der mich nervt –, dann ist es ganz egal, wie laut es ist. Wenn ich diesen Menschen hasse, dann hasse ich jedes Geräusch, das er macht.

Karkowsky: Was es ja dann auch dem Lärmschutz so schwermacht, Lärm zu messen …

Geisel: Genau, ganz genau.

Karkowsky: … weil die kommen mit Dezibelmessgeräten …

Geisel: Das ist eine ganz schwierige Sache, auch jetzt nicht nur wie Nachbarschaftssachen, sondern auch, wenn Sie zum Beispiel Fluglärm begrenzen wollen, dann gibt es so einen Mittelwert über eine Stunde, und ob das drei laute oder hundert leise Flugzeuge sind, bleibt sich gleich, aber …

Karkowsky: Im "Radiofeuilleton" zu Gast ist Sieglinde Geisel, Autorin des Buches "Nur im Weltall ist es wirklich still". Frau Geisel, gleich ist es soweit, wir sind ja heute, am Tag gegen den Lärm, aufgerufen, um ganz genau 14:15 Uhr ganze 15 Sekunden lang zu schweigen. Wir werden das hier im Deutschlandradio Kultur nicht 15 Sekunden mitmachen, aber ein paar Sekunden werden wir mitmachen. Und diese paar Sekunden beginnen genau um 14:15 Uhr, und das ist jetzt.

((Schweigesekunden))

Das waren jetzt nur sechs Sekunden, aber die können im Radio sehr, sehr lang sein. Fanden Sie es wirklich still hier im Studio, haben Sie irgendwas gehört?

Geisel: Ich habe ein Surren gehört von dem Licht da oben wahrscheinlich.

Karkowsky: Oder von der Klimaanlage.

Geisel: Ja, wovon auch immer.

Karkowsky: Was, glauben Sie, bringt eine solche Aktion? Jetzt machen ja alle Leute wieder Lärm draußen, die 15 Sekunden sind vorbei.

Geisel: Na ja, es wird wahrscheinlich niemandem aufgefallen sein, der nicht zufällig gerade Deutschlandradio gehört hat jetzt, dass es still gewesen sei. Ich glaube nicht, dass wir das wahrnehmen können, also dass jetzt in den Straßen plötzlich alle Autos still stehen oder so, ist ja gar nicht möglich. Aber ich denke, alles, was uns dazu bringt, dem Hören bewusst nachzugehen, das verändert das Hören schon und hat in dem Sinn einen Sinn.

Karkowsky: Eine wichtige Frage in Ihrem Buch ist deshalb auch, in welchem akustischen Raum wollen wir leben – eine Aufforderung zum Nachdenken über den bewussten Umgang mit Lärmquellen. Was glauben Sie denn, welche Chance der Einzelne hat, den Umgebungslärm zu beeinflussen?

Geisel: Na gut, was Nachbarschaftsstreitigkeiten angeht, kann es schon sehr viel helfen, wenn man einfach mal Kontakt aufnimmt und miteinander spricht. Zum einen, weil manchmal die Nachbarn gar nicht wissen, wie sehr sie einen belärmen und darauf eigentlich ganz gerne Rücksicht nehmen würden, und zum anderen auch, weil man sofort, wenn man die Beziehung zu dem Nachbarn herstellt oder ändert, auch den Lärm anders ertragen kann. Das heißt, es geht auch nicht nur darum, jetzt Lärmquellen von außen abzustellen oder sich von denen zu entfernen, sondern sich selbst ein anderes Verhältnis zum Lärm beizubringen versuchen. Das klappt natürlich nicht immer, und ich bin gar nicht dafür, dass es jetzt alle drauflos lärmen sollen und wir müssen halt damit umgehen lernen, aber es gibt Lärm, der sich nicht vermeiden lässt. Und wenn man es schafft, diesen Lärm loszulassen, dann hat man schon sehr viel gewonnen.

Karkowsky: In Ihrem Buch finden sich auch Beispiele von bewusstem Umgang mit akustischen Räumen – können Sie welche nennen? Die Hörstadt zum Beispiel?

Geisel: Ja, das ist in Linz eine Initiative, die mir sehr gefällt, die versuchten, zum Beispiel die Hintergrundmusik einfach mal zu thematisieren. Das nehmen wir ja als eine Normalität wie das Wetter, das man gar nicht mehr infrage stellen kann.

Karkowsky: In der europäischen Kulturhauptstadt 2009?

Geisel: Genau, in Linz. Und die hatten dann die Initiative "beschallungsfrei", das ist ganz freiwillig. Ich als Restaurant kann sagen, ich mache mit, ich lasse keine Musik laufen. Dann kriege ich eine Plakette, die ist neben der Tür angebracht, und wer zu mir kommt, der weiß dann, hier kann er in Ruhe sein Buch lesen und muss keine Musik hören.

Karkowsky: Und was haben Sie darüber rausgefunden, wie diese Aktion geendet hat?

Geisel: Die ist ohne Ende, also man kann ständig jetzt immer noch weiter mitmachen. Es ist aber auch jetzt niemand dran, der das noch mal weiter organisiert. Es ist einfach so, wenn Sie morgen beschließen, dass Sie Ihr Schuhgeschäft ohne Musik machen wollen und das publizieren, dann kriegen Sie die Plakette und sind auch dabei.

Karkowsky: Sie stellen die Stille nicht dem Lärm gegenüber als das erstrebenswerte Ideal, womit wir uns ja langsam wieder dem Anfang unseres Gespräches nähern. Warum eigentlich nicht?

Geisel: Na ja, es ist was ganz Zwiespältiges. Wir glauben ja alle, wir hätten keine größere Sehnsucht als die nach der Stille. Und wenn man dann plötzlich mal in einer Stille sich findet, wie zum Beispiel vorhin bei den fünf Sekunden, dann merkt man schon nach fünf Sekunden, dass sich auch im Inneren etwas ändert. Man wartet eigentlich drauf, dass das Leben wieder weitergeht, dass wieder ein Klang ist. Und ich habe gar nichts gegen die Stille, es ist nur so, dass wir uns selten darüber Gedanken machen, wie wenig wir diese Stille eigentlich aushalten. Weil sobald es außen still wird, dann geht der Lärm im Inneren los. Das heißt also, ohne eine Vorbereitung hält man Stille gar nicht durch. Ich habe zum Beispiel Freunde in der Schweiz, die sind Pfarrer und wollen in ihrer Kirche so eine Art Stilleritual einführen, dass die … einmal in der Woche geht man mittags hin für eine Viertelstunde Stille. Und sie haben sofort gemerkt, das geht überhaupt nicht, Viertelstunde ist viel zu lang, das halten die Leute nicht aus. Das muss man ganz vorsichtig einführen, mit Musik vorher, Musik danach und mal mit fünf Minuten anfangen. Und wir unterschätzen einfach die Macht der Stille, wenn wir so dahinsagen, ach, wäre es doch endlich still.

Karkowsky: Am heutigen Tag gegen den Lärm danke der Kulturjournalistin Sieglinde Geisel. Ihr Buch heißt "Nur im Weltall ist es wirklich still". Ihnen vielen Dank!

Geisel: Danke auch!
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