Das bittere Ende

30.11.2006
Hermann Kinder versucht mit seinem Roman "Mein Melaten" die gesellschaftliche Debatte über die alternde Gesellschaft, die Frank Schirrmacher angestoßen hat, ins Literarische zu übersetzen: Sein Protagonist aber ist nicht Teil einer fröhlichen Altersgesellschaft, sondern ein Außenseiter. Anstatt seinen Lebensabend zu genießen, sitzt er alleine da in seiner Konstanzer Wohnung.
Wenn ein Autor sein Buch im Untertitel nicht nur als Methusalem-Roman, sondern auch noch als den Methusalem-Roman ankündigt, beweist er, dass er keine Scheu vor Welthaltigkeit seiner Stoffe hat. Seitdem Frank Schirrmacher mit seinem Essay-Bestseller über den "Methusalem-Komplott" die Vision einer hoffnungslos überalterten Gesellschaft zeichnete, weist der alttestamentarische Name nicht mehr auf den vorsintflutlichen Ur-Greis zurück. Das Alter ist zum Zukunftsthema geworden. Die modernen Methusaleme kommen uns am Wochenende fliegenhaft bebrillt und in grellbunte Ganzkörperanzüge gezwängt auf ihren schnittigen Rennrädern entgegen. Es sind konsumorientierte Hedonisten, die auf luxuriösen Kreuzfahrtschiffen überwintern und beim Blick in die karibische Abendsonne großzügig finden, dass es ihren Kindern doch auch einmal so gut gehen möge, wie ihnen selbst.

Vor der Kulisse unserer fröhlichen Altersgesellschaft ist Hermann Kinders Methusalem ein Außenseiter. Ein Übriggebliebener aus der Vor-Schirrmacher-Epoche, einer für den das Alter nicht die im Generationenvertrag garantierte After-Work-Party ist, auf der das Leben erst ab 66 wirklich abrockt. Das bittere Ende beginnt für diesen Ich-Erzähler mit der nahenden Frühpensionierung. Da sitzt er auf einmal allein da, in seiner Wohnung in Konstanz oder auf langen Zugfahrten nach Köln, wo seine Frau noch einmal eine Lebenszeit-Stelle gefunden hat. Im Laufe der präsenilen Pendlerexistenz wird Köln mehr und mehr zum Inbegriff morbider Tristesse. Melaten, den sich dieser altmodisch anmutende Romanheld zu eigen macht, ist der historische Zentralfriedhof in Köln. Hermann Kinder hat einen Roman geschrieben, an dem notorische Köln-Hasser und all diejenigen, die dem Alter partout nichts als latent drohende Depression, Inkontinenz und Impotenz abgewinnen wollen, ihre diebische Freude haben werden.

Wenn wir nicht wüssten, wie weit das Leben unserer modernen Methusaleme heute über die Pensionsgrenze hinausreicht, müsste man fürchten, dass Hermann Kinder selbst mit diesem Roman einen schriftstellerischen Bogen abgeschlossen hat. 1977 landete der damals Anfang 30-Jährige mit seinem Roman-Debut "Der Schleiftrog" einen von der Kritik begeistert gefeierten Erstlingserfolg. Kinder war es damals gelungen, die goethesche Gattung des Bildungsromans in die frühe Bundesrepublik zu transponieren. In einem stilsicher modernen Chronistenton verfolgte Kinder die Reifung seines Ich-Erzählers vom Knaben in der britischen Besatzungszone zum prototypischen Jung-Intellektuellen der 60er Jahre: Germanist in süddeutscher Universitäts-Kleinstadt, Marx im Regal, SPD-Parteibuch in der Tasche. Irgendwie blieben sowohl Kinder als auch seine Romantypen in Konstanz hängen, wo der Autor als Akademischer Rat Literaturwissenschaft lehrt und vom anderen Ufer des Überlinger Sees die schriftstellerische Altersmilde Martin Walsers hinüber weht. Dieser Ich-Erzähler Hermann Kinders, der seine Leser durch eine ganze Reihe von Romanen – vom "Schleiftrog" angefangen über Erzählungen wie "Du musst nur die Laufrichtung ändern", und "Der Mensch, ich Arsch" - bis hin zu jenem zeitgenössischen Methusalem auf dem Kölner Friedhof Melaten verfolgen konnten, dieser mit der Bundesrepublik in die Jahre gekommene Romanheld hat einiges mit Martin Walsers behäbig bürgerlichen Helden gemeinsam: Innerlich den wehmütigen Hang zur Weltenfremdung, äußerlich den Bauchansatz und geographisch die Hingezogenheit zur Bodenseelandschaft mit ihrem uneingelösten Versprechen, alles menschliche Auseinanderstreben in natürlicher Harmonie zu befrieden. Bei Hermann Kinder kommt noch ein Schuss galligen Humors hinzu, der an die Protagonisten der neuen Frankfurter Schule – F.W. Bernstein, Robert Gernhard und Eckhard Henscheid – erinnert.

Kinder bleibt damit durch und durch ein Literat der Bundesrepublik des späten 20. Jahrhunderts. Der Methusalem-Stoff des 21. Jahrhunderts wartet indes auf einen anderen. Auf einen, der das Alter und unsere überalterte Zukunftsgesellschaft mit einem neuen sprachlichen Instrumentatrium zu erfassen vermag. Das Thema Alter verbindet heute das individuelle mit dem gesellschaftlichen Drama. Aus dieser Mischung entsteht das Potenzial zum großen Romanstoff. Welcher Autor findet die Worte, literarisch zu erfassen, wie der Zerfall des Ichs auf das Individuum und die Gesellschaft wirken? Es müsste wohl einer sein, der mit jener sprachlichen und inhaltlichen Treffsicherheit auftritt, mit der der junge Hermann Kinder vor fast genau 30 Jahren den deutschen Literaturbetrieb überraschte.

Rezensiert von Stephan Detjen

Hermann Kinder: Mein Melaten. Der Methusalem-Roman
Haffmans Verlag bei Zweitausendeins
240 Seiten,
12,90 Euro