Dankbarkeit

Eine Tugend, die gerade weiterhilft

03:46 Minuten
Ein Arzt bildet ein Herz aus seinen Händen als Zeichen der Dankbarkeit.
Dass wir in einem Land mit guter Gesundheitsversorgung leben, und dies nicht selbstverständlich ist, gerät bisweilen in der Coronakrise aus dem Blick. © picture alliance / Zoonar / Robert Kneschke
Gedanken von Anne Müller · 15.02.2021
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Der Frust wächst im Corona-Lockdown. Ein Perspektivwechsel könne da helfen, meint die Autorin Anne Müller. Statt sich auf das zu fokussieren, was wir vermissen, sollten wir dankbar sein für schöne Dinge, die wir oft als selbstverständlich hinnehmen.
Ein Professor kündigt im Unterricht einen Überraschungstest an. Er verteilt das Aufgabenblatt, wie üblich mit dem Text nach unten. Als die Studierenden es umdrehen, staunen sie: Es gibt keine Fragen, sondern nur einen schwarzen Punkt in der Mitte der Seite.
Der Professor sagt: "Ich bitte Sie aufzuschreiben, was Sie dort sehen!" – Als er die Blätter wieder eingesammelt hat, stellt er fest: Alle, ohne Ausnahme, haben den schwarzen Punkt beschrieben, seine Position, sein Größenverhältnis et cetera. Der Professor lächelt: "Ich wollte Ihnen eine Aufgabe zum Nachdenken geben. Niemand hat über den weißen Teil des Papiers geschrieben, jeder konzentrierte sich auf den schwarzen Punkt. Und das Gleiche geschieht in unserem Leben. Wir haben ein weißes Papier erhalten, um es zu nutzen und zu genießen, aber wir konzentrieren uns immer auf die dunklen Flecken."

Dankbarkeit – die größte aller Tugenden

Diese Parabel, Verfasser oder Verfasserin unbekannt, bringt es im wahrsten Sinne auf den Punkt. Es geht um einen Perspektivwechsel, den Blick auf das zu richten, was in unserem Leben gut läuft. Die sogenannte "hedonistische Anpassung" verhindert, dass wir das Gute nicht mehr genügend wertschätzen: die warme Wohnung, der volle Kühlschrank, unsere Lieben, eine funktionierende Demokratie. Alles ganz selbstverständlich? Warum konzentrieren wir uns eher auf den schwarzen Punkt, die dunklen Flecken statt auf positive Aspekte unseres Lebens?
Für den römischen Philosophen Cicero war die Dankbarkeit nicht nur die größte aller Tugenden, sondern auch die Mutter von allen. Dankbarkeit ist mehr als positives Denken, sie ist eine Haltung, Freude am Sein. Die Psychologie hat die Dankbarkeit erst seit den 2000er-Jahren als wichtige Ressource entdeckt. Studien zeigen, dass die Dankbarkeit sich positiv auswirken kann, auf unseren Schlaf, die Kreativität und die zwischenmenschlichen Beziehungen.
Therapeuten empfehlen daher gern das Glückstagebuch: Abends im Bett vor dem Einschlafen drei Dinge notieren, die einem gut gelungen sind an dem Tag, über die man sich freuen konnte. Wer unter diesem Blickwinkel den Tag noch einmal Revue passieren lässt, nimmt eine positive Gestimmtheit mit in den Schlaf. Dort wirkt sie weiter auf das nie schlafende Bewusstsein. Es geht um das Einüben einer anderen Perspektive auf das Blatt Papier des Lebens.

Nicht alles als selbstverständlich ansehen

Dankbarkeit ist nur dann echt, wenn sie der Wertschätzung entspringt, wirklich empfunden wird. Das automatische Danke der Vorgesetzten, das sie sich bei ihrem letzten Führungsseminar antrainiert haben, macht uns nicht glücklich. Dankbarkeit kann nicht befohlen werden von außen. Die Aufforderung "Nun sag mal schön Danke!" kränkt nicht nur das Kind, sondern auch die Person, die ihm gerade etwas geschenkt hat.
Es fehlt meiner Meinung nach in diesem Land, das so reich ist, und in einer Gesellschaft, in der sehr viele Menschen immer im Wohlstand gelebt haben und dies auch nach wie vor tun, manchmal am Bewusstsein, dass das alles nicht selbstverständlich ist. Dieser andere Fokus könnte helfen zu erkennen, was hier und heute in unserem Privatleben, aber auch in unserem Staat insgesamt, gut funktioniert.

Definitionsmacht über unser Leben übernehmen

Indem wir die Definitionsmacht über unser Leben übernehmen, könnten wir auch den Corona-Beschränkungen besser trotzen. Statt wie große Kinder der Konsumgesellschaft auf die frohen Verkündigungen und Lockerungen von "Papa und Mama Staat" und somit auf endlich wieder mehr Spaß zu hoffen, könnten wir als mündige Erwachsene dankbar anerkennen, was da ist und was uns wirklich trägt. Und das sind nicht der Einkaufsbummel oder die Fernreise und auch nicht der Friseurbesuch.

Anne Müller, Jahrgang 1963, arbeitete nach einem Studium der Theater- und Literaturwissenschaften zunächst als Radiojournalistin, dann als Drehbuchautorin. Seit ein paar Jahren schreibt sie Romane, der letzte, "Zwei Wochen im Juni" (Penguin Verlag), erschien im April 2020 in Coronazeiten. Die Autorin lebt in Berlin.

© Penguin Random House / Antonina Gern
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