Critical Whiteness

Ein Plädoyer gegen die "Farbenblindheit"

Die in Buchstaben geschriebene Worte "schwarz" und "weiß"
Critical whiteness sondiert die unterschiedlichen Erfahrungen und Positionen von "Weißen" und "Schwarzen" in einer von "Weißen" dominierten Gesellschaft. © imago / Westend61
Natasha Kelly im Gespräch mit Dieter Kassel · 19.07.2017
"Kritische Weißseinsforschung" ist in Deutschland noch ein junges Forschungsgebiet. Hier geht es darum, Hautfarbe nicht einfach zu ignorieren, sondern die "weiße Norm" anzuerkennen und zu kritisieren, meint die Soziologin Natasha A. Kelly. Gerade in Deutschland setze man sich mit seiner kolonialen Vergangenheit nicht auseinander.
Bekämpft man Rassismus am besten mit "Farbenblindheit", indem ethnische Merkmale und Unterschiede behandelt werden, als exisitierten sie gar nicht? So sehen es viele, auch innerhalb der Antirassismus-Bewegung. Von Vertretern der "Critical Whiteness" wird dieser Ansatz allerdings immer lauter in Frage gestellt. Denn, so argumentieren sie, wer "Farbenblindheit" einfordert, übersieht, dass "Weißsein" in der Gesellschaft eine unsichtbare, unbewusste Norm ist und das Andersfarbige insofern immer als das Andere, Abweichende erscheinen. Insofern müssten solche ethnischen Aspekte bewusst gemacht anstatt totgeschwiegen werden.

Eine Frage der Verantwortung

In Deutschland ist dieses Forschungsgebiet - übersetzt "kritische Weißseinsforschung", im Vergleich zu den USA oder Großbritannien noch relativ neu, sagte die Soziologin und Kommunikationswissenschaftlerin Natasha A. Kelly im Deutschlandfunk Kultur. Rassismus sei oft mit Privilegien verbunden. Das gelte beispielsweise für weiße Männer, die sich mit Rassismus nicht beschäftigen wollten, weil er sie angeblich nicht betreffe. "Aber da liegt ja genau der Trugschluss", sagte Kelly. "Rassismus wurde zu einem Problem von Schwarzen gemacht und zwar durch Weiße – also, haben Sie darin auch eine Verantwortung."
Auch als Weißer sollte man über die eigene Identität nachdenken, denn Rassismus wirke kontinuierlich. Gerade Deutschland sei ein Land, das sich mit seiner kolonialen Vergangenheit nicht auseinandersetze. Deshalb gebe es eine besondere Verantwortung, diese Kontinuität zu brechen. "Solange das nicht geschieht, wird auch Rassismus und Kolonialismus fortwirken." Es werde allerdings noch Jahrhunderte dauern, bis der Rassismus überwunden sei.

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Weiße Menschen, die in einer Gesellschaft wie der deutschen leben, die beschäftigen sich meistens nicht damit, dass sie weiß sind. Sind sie halt. Sind die meisten anderen um einen herum auch. Und darauf angesprochen, warum das nicht ein Thema ist, würden die meisten Menschen, ich zum Beispiel ganz sicher auch, sagen, weil es ja auch grundsätzlich gar kein Thema sein sollte, weder bei Weißen noch bei Leuten, die irgendeine andere Hautfarbe haben. Das kann man aber ziemlich leicht sagen, wenn man im Alltag sowieso nie mit irgendetwas konfrontiert wird, wovon man überhaupt merkt, dass es mit der eigenen Hautfarbe, mit der eigenen Herkunft was zu tun hat.
Es gibt Menschen, die sagen, das geht eigentlich nicht, dass Weiße sich mit ihrem eigenen Weißsein gar nicht beschäftigen. Und diejenigen, die das sagen, die sind oft Anhänger der sogenannten Critical Whiteness. Das ist ein Forschungsgebiet, das man auf Deutsch durchaus auch Kritische Weißseinsforschung nennen darf, so wird es auch oft genannt. Wir werden heute Abend in einem ausführlichen Feature über dieses Phänomen berichten und wollen jetzt darüber sprechen, und zwar mit der promovierten Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin Natasha Kelly. Schönen guten Morgen, Frau Kelly!
Natasha Kelly: Guten Morgen!
Kassel: Ich glaube, dass viele Menschen jetzt gerade das erste Mal diesen Begriff Critical Whiteness überhaupt gehört haben. Wie würden Sie das denn für jemanden, der darüber gar nichts weiß, kurz und bündig definieren, was das überhaupt ist.
Kelly: Es ist eigentlich eine Kritik an die weiße Norm. Es ist so alt wie die Versklavung und Kolonialisierung selbst. Es ist im Prinzip eine Strategie gewesen, die schwarze Menschen gewählt haben, um in der weißen Mehrheitsgesellschaft zurechtzukommen damals. Es wurde dann im Lauf der Zeit – im Prinzip wurde dann diese Kritik von Weißen übernommen, die daraus im Prinzip eine Selbstkritik gemacht haben und gesehen haben, dass Rassismus natürlich auch eine andere Seite hat, nämlich den Kapitalismus, und dass dieser Kapitalismus eben zu White Supremacy führt, und dass eben die weiße Unterklasse genauso davon betroffen ist.
Diese Kritik haben sie dann selbst umgesetzt, haben halt gesagt, ein rassistisches System ist natürlich für uns auch nichts Gutes, deswegen müssen wir da was tun. Und haben diese Kritik umgesetzt und diese Normen sichtbar gemacht und auch die Benachteiligungen, die damit verknüpft sind, für alle.
Kassel: Das heißt, in Ländern wie den USA, in Großbritannien vielleicht auch, ist das ganz schon länger ein Thema und auch etwas bekannter als bei uns, dieses Phänomen.
Kelly: Ja, definitiv, auf jeden Fall.

Rassismus und Privilegien

Kassel: Ich habe, als ich mich nun beschäftigt habe mit dem – es ist ein ein bisschen blödes Wort auf Deutsch, wobei natürlich korrekt übersetzt, die Kritische Weißseinsforschung – gelesen, dass es durchaus Menschen gibt, die sagen, wenn ich jetzt als weißer Mann sage, ich will mich aber damit nicht beschäftigen, ich will eigentlich, dass alle Menschen gleich sind, und ich will weder über meine noch über eine andere Hautfarbe weiter nachdenken, dann sei das auch schon rassistisch. Sehen Sie das auch so?
Kelly: Ja. Weil Rassismus natürlich auch Privilegien hervorruft, in diesem Kontext eben von gerade weißen Männern, die natürlich privilegiert sagen können, dass sie sich mit Rassismus nicht beschäftigen, weil es sie ja nicht betrifft. Aber da liegt ja genau der Trugschluss, denn Rassismus wurde zu einem Problem von Schwarzen gemacht, und zwar durch Weiße. Also haben sie darin auch eine Verantwortung. Sie müssen sich nicht über ihre Hautfarbe identifizieren, und das bringt natürlich gesellschaftliche Vorteile auf allen Ebenen.
Kassel: Ist diese Verantwortung, von der sie nun gesprochen haben, nur eine historische, oder ist das auch eine alltägliche? In einer Gesellschaft wie der deutschen denke ich natürlich oft gar nicht darüber nach, ob und was es bedeutet, dass ich weiß bin. Sollte ich das?
Kelly: Ich denke, ja. Weil Rassismus wirkt natürlich kontinuierlich, und gerade Deutschland, ein Land, das sich mit seiner kolonialen Vergangenheit nicht auseinandersetzt, steht natürlich in dieser Verantwortung, genau diese Kontinuität zu brechen. Solange das nicht geschieht, werden auch Rassismus und Kolonialismus fortwirken.
Kassel: Das heißt, dieses Gefühl, das Deutsche ja oft haben – ja, Gott, die Amerikaner haben ein großes Problem, die Briten haben ein Problem, in Südafrika gibt es ein riesiges Problem, hier haben wir das nicht – das ist Verdrängung?
Kelly: Genau. Immer schön die anderen beschuldigen sozusagen, ohne vor der eigenen Tür zu kehren. Ich glaube, das wäre halt ganz wichtig, eben den historischen Kontext zu verstehen, dass auch in Deutschland Rassismus als wirkmächtiges System gewachsen ist.

Unterschiede als Quelle der Kraft

Kassel: Ist denn das ein Weg, der wirklich in den Rassismusabbau führt? Denn ich bin ja immer noch bei dieser Grundtheorie, zu sagen, wenn wir uns mit Dingen wie Critical Whiteness beschäftigen, wenn wir uns überhaupt mit Begriffen wie "Rasse" beschäftigen, wenn wir uns auch nur mit weniger umstrittenen Begriffen wie "Hautfarbe" beschäftigen, dann machen wir ja erstmal diese Unterschiede, die wir doch eigentlich gemeinsam überwinden wollen.
Kelly: Zuerst muss ich sagen, dass Unterschiede ja auch als Quelle der Kraft und Kreativität gesehen werden können. Wir sind ja alle unterschiedlich. Ich glaube, es ist ein Trugschluss, zu sagen, wir sind alle gleich. Das sind wir nicht. Wir sind alle gleichwertig, ja. Aber wir sind sehr unterschiedlich, und es gilt diese Unterschiede zu verstehen, als positiv zu betrachten.
Das, denke ich, ist das Wichtige daran. Und indem ich natürlich einfach diese Unterschiede benenne oder überhaupt das Problem benenne, nämlich Rassismus, kann ich es ja erst überhaupt bekämpfen. Wenn ich nichts habe, dann ist das ja wie gegen Windmühlen zu kämpfen. Und das Problem ist ja da, und es muss ja aus genau dieser Unsichtbarkeit gelöst werden. Es soll ja benennbar werden. Und das erlaubt die Critical-Whiteness-Forschung eigentlich.
Kassel: Läuft die Critical-Whiteness-Forschung in Ländern, in denen Weiße nicht so eindeutig die Mehrheit und auch, formulieren wir es ruhig so, die Macht haben wie in Mitteleuropa, anders? Ich denke zum Beispiel tatsächlich an die Republik Südafrika. Nun sind wir immer im wahrsten Sinne des Wortes gerade beim Schwarzweißdenken. Ich denke auch an Asien. Ist da die Critical Whiteness was anderes als bei uns?
Kelly: Dazu kann ich ehrlich gesagt nichts sagen, weil mein Forschungsgebiet ist tatsächlich Europa, sprich Deutschland, oder die afrikanische Diaspora. Ich glaube, da muss auch Critical Whiteness politisch verortet werden. Es macht natürlich nur Sinn, wenn es in weißen Mehrheitsgesellschaften thematisiert wird. Ich glaube, in Südafrika oder wie auch in allen anderen Ländern, äußert sich Rassismus ja jeweils anders.

Blick in die Zukunft

Kassel: Wir stehen – Sie können mir natürlich widersprechen, aber ich glaube, da werden Sie zustimmen –, wir stehen in Deutschland mit der Beschäftigung mit Critical Whiteness oder eben der Kritischen Weißseinsforschung ja noch ziemlich am Anfang – wie lange, glauben Sie, wird das noch dauern, bis zumindest diese Beschäftigung – das heißt ja noch nicht, dass Probleme gelöst sind, aber diese Beschäftigung im Alltag angekommen ist?
Kelly: Ich sehe ja durch meine Arbeit, durch meine Forschungen und politische Arbeit, dass es in den letzten Jahren zugenommen hat, was ich eben gut finde, dass eben weiß positionierte Personen sich mit ihrer eigenen Identität in den Kontext von Rasse, Rasse als soziales Konstrukt auseinandersetzen. Bis wir natürlich in einer rassismusfreien Gesellschaft leben, wird es auf jeden Fall noch ein paar hundert Jahre dauern. Aber wir sind auf dem Weg, und das finde ich gut.
Kassel: Ein paar hundert Jahre?
Kelly: Ja, definitiv. Es wäre ein Trugschluss, zu sagen, in zehn Jahren sind wir durch, dann gibt es keinen Rassismus mehr. Es hat ja 500 Jahre gedauert, das System aufzubauen, und dann werden wir mindestens genauso lange brauchen, es auch wieder abzubauen. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen.
Kassel: Natascha Kelly, Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin, über die Critical Whiteness und über Rassismus und auch einen wissenschaftlichen Kampf dagegen, natürlich nicht allein. Frau Kelly, optimistisch war das jetzt am Schluss nicht, aber ich danke Ihnen trotzdem herzlich für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Ebenfalls zum Thema: Das Feature "Critical Whiteness. Die Diskussionen um Alltagssprache und Diskriminierung" von Azadê Peşmen und Philipp Gessler in unserer Reihe "Zeitfragen" am 19. Juli um 19.30 Uhr.

Mehr zum Thema