Corona in Israel

Am meisten leidet die Demokratie

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Der Kopf eines Mannes mit Schutzmaske schaut aus einem Loch einem Stück Stoff hervor.
Ausgangssperre wie auch massenhafte Verortungen durch das Mobilfunknetz - die Menschen in den von Israel besetzten Palästinensergebieten kennen solche Maßnahmen auch ohne Coronakrise. © imago / INA Photo Agency / Yousef Masoud
Ein Standpunkt von Ofer Waldman · 31.03.2020
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Per Dekret und ohne parlamentarische Kontrolle setzt Israel Maßnahmen gegen eine Verbreitung des Coronavirus um, kritisiert Ofer Waldman. Von der Situation könnte auch der unter Korruptionsanklage stehende Ministerpräsident Netanjahu profitieren.
So wie in Deutschland versucht man auch in Israel, sich der steigenden Panik durch das Festhalten an Bewährtem zu widersetzen. In der Bundesrepublik wird über die Fortsetzung der Bundesliga diskutiert. In Israel, nach dem dritten Wahlgang innerhalb eines Jahres, werden die politischen Animositäten der neuen Situation angepasst. In den linken Zeitungen etwa steht, eine Hochzahl der Corona-Ansteckungen ereigne sich in religiösen Einrichtungen, die traditionell dem Netanjahu-Lager angehören. Die Ultraorthodoxen sagen wiederum, die Epidemie sei eine Strafe für das säkulare Abkehren von den Geboten Gottes. Alles beim Alten also.
Diese wie jene achten aber darauf, die Anweisungen des Gesundheitsamtes zu befolgen. Denn ob religiös oder säkular, Siedlerin oder Friedensaktivist – die krisenerprobten Israelis sind in solchen Situationen äußerst obrigkeitshörig. Egal, ob man tagsüber den Schöpfer um Gnade anfleht oder Toilettenpapier hortet – oder beides – , die ultimative Beruhigung für die meisten Israelis kommt in Form eines uniformierten Mannes in den Abendnachrichten daher, der mit väterlicher Miene Anweisungen erteilt.

Ausgangssperre - in den besetzten Gebieten kennt man das gut

Die Epidemie ist indes grenzenlos. Das Virus springt im Westjordanland von Siedlern auf ihre palästinensischen Nachbarn über. Gleichzeitig werden Maßnahmen auf die eigenen Bürger angewendet, die meistens für die Palästinenser in den besetzten Gebieten vorbehalten sind: Dazu zählen die Ausgangssperre wie auch massenhafte Verortungen durch das Mobilfunknetz. Diese Mittel wurden vom israelischen Geheimdienst über die Jahre im Kampf gegen den Terror und die Aufrechterhaltung der Besatzung perfektioniert. Nun ermöglichen sie die Einhaltung der Quarantäne von Corona-Verdachtsfällen.
Doch die besagte Obrigkeitshörigkeit setzt voraus, dass die Bürger daran glauben, jene Obrigkeit handele im allgemeinen Interesse. Die andauernde politische Krise in Israel erschüttert aber allmählich eben diesen Glauben. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der sich in drei Fällen der Korruption vor Gericht verantworten muss, hat bereits in der Vergangenheit bewiesen, dass ihm sämtliche Mittel recht sind, um im Ministerpräsidentenbüro einer Haftstrafe zu entkommen. Gehört der Missbrauch der Coronakrise dazu?
Ein mögliches Startsignal gab der israelische Justizminister und Netanjahu-Vertraute Amir Ohana kürzlich. Er versetzte das israelische Gerichtssystem in einen Notmodus und verschob Netanjahus Prozessbeginn um zwei Monate. Gleichzeitig versuchte Parlamentspräsident Juli Edelstein, der Netanjahus Likud-Partei angehört, die Arbeit sämtlicher parlamentarischer Ausschüsse durch das verordnete gesundheitliche Kontaktverbot zu bremsen. Es ging vor allem um jene Ausschüsse, in denen gerade Gesetzesvorhaben diskutiert wurden, die Netanjahus Wiederwahl verhindern sollten. Und nun scheint es, als ob Netanjahu sich voraussichtlich als Ministerpräsident einer Not-Einheitsregierung im Amt retten könnte.

Droht eine Erdoganisierung der israelischen Demokratie?

Zusammen mit den Maßnahmen, die zum Kampf gegen die Epidemie per Dekret und ohne parlamentarische Kontrolle eingesetzt wurden, wecken diese Entwicklungen die Angst vor einer Erdoganisierung der israelischen Demokratie.
Als Reaktion wurden aus sämtlichen Fenstern und Balkonen schwarze Flaggen gehisst; eine Demonstration wurde organisiert, die aufgrund der Epidemie in den sozialen Medien abgehalten und von Hunderttausenden verfolgt wurde; das oberste Gericht drohte ebenfalls, sich einzumischen, sollte die Arbeit des Parlaments nicht ungehindert fortgesetzt werden.
Die Epidemie wird überstanden werden. Es bleibt aber abzuwarten, welche Schäden die israelische Demokratie davonträgt.

Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, ist freier Autor und Journalist. Er war Mitglied des arabisch-israelischen West-Eastern-Divan Orchesters. In Deutschland erwarb er ein Diplom als Orchestermusiker und spielte unter anderem beim Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin sowie den Nürnberger Philharmonikern. Derzeit promoviert er an der Hebräischen Universität Jerusalem und der FU Berlin und beschäftigt sich in Vorträgen und Texten mit den deutsch-jüdischen, deutsch-israelischen und israelisch-arabischen Beziehungen.

Ofer Waldman
© Kai von Kotze
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