Cool down!

Von Claus Leggewie |
In diesen Tagen macht sich keine Freunde, wer eine Lanze für die Bahn bricht. Doch warum werden Menschen, die den täglichen Irrsinn auf Autobahnen und Flugstrecken klaglos hinnehmen, bei der Bahn zu Verbalradikalen? Natürlich ist man wütend auf Betreiber von ICE-Zügen, deren Klimaanlagen auf eine Höchsttemperatur von 32 Grad Celsius ausgelegt sind.
Aber den Klimawandel, der künftig auch wochenlange Hitzeperioden weit über 32 Grad in mitteleuropäischen Sommern zur Regel machen kann, haben nicht nur ICE-Konstrukteure verleugnet, sondern das Gros der Bahnkunden, die vor ein paar Wochen noch die nächste Eiszeit ausrufen wollten. Und darauf, dass S-Bahnen und Regionalzüge öfter wegen Orkanen, Überschwemmungen und anderem Extremwetter zu allen Jahreszeiten ausfallen werden, darf man sich getrost schon einstellen.

Das bequeme Bahn-Bashing leistet sich eine Gesellschaft, die mit den Folgen ihrer Übermobilität konfrontiert ist und einen Sündenbock für die übermäßige Emission von Treibhausgasen benötigt. Der ICE macht die Grätsche, weil Otto Normalverbraucher ungeniert aufs Gaspedal tritt, drei Mal im Jahr nach Gran Canaria jettet und den Brummis zu fahren gibt, weil er alles, aber auch alles binnen 24 Stunden frei Haus geliefert haben will.

Mindestens zwanzig Jahre zu spät habe ich kürzlich mein Auto verkauft und bin seither umso mehr auf die Bahn angewiesen. Und da erlebe ich täglich, wie ein Mobilitätsdienstleister sich ruiniert: Die günstige Zugverbindung, die mich bis dato zur Arbeit gebracht hat, hat sich durch die jüngste Fahrplanumstellung erledigt, mir bleiben nur längere und teurere Alternativen. Die ICE und TGV, die ich in der letzten Zeit nach Paris oder Brüssel bestiegen habe, sind samt und sonders liegen geblieben oder erheblich zu spät gekommen. Das Erreichen von Anschlusszügen ist fast jedes Mal ein Abenteuer und abends hin ich häufiger Zwangskunde in Bahnhotels geworden. Beim Einschlafen erschien mir stets ein gewisser Mehdorn und erklärte den Börsengang und Stuttgart 21.

Unverdrossen lasse ich mich aber von der Präzision beeindrucken, mit der immer noch Millionen Europäer täglich mit Zügen im Nah- und Fernverkehr zur Arbeit, zu beruflichen und privaten Treffen und in die Ferien gelangen, wesentlich angenehmer reisend, als in Blechkisten auf Rädern und Sardinendosen mit Flügeln. Und bisweilen wirklich reisend, weil man im Zug Landschaften erfahren, interessanten Menschen begegnen, seinen Gedanken nachhängen, Notizen machen, einen Roman ganz durchlesen kann und so weiter.

Anerkennung kann das Beförderungsmittel Bahn dafür kaum erwarten, die Reiseidylle ist zu selten geworden und wird nicht mehr nachgefragt. Auch der Bahnverkehr erweist unsere absurde Übermobilität. Täglich fahren Zigtausende zu Meetings, die sie ebenso gut per Videokonferenz abhalten (oder mangels Substanz absagen) könnten. Begeben sich Hunderttausende missgelaunt in überfüllten Zügen zur Bildschirmarbeit, die sie großenteils am heimischen PC ausführen könnten. Müssen sich Kinder und Halbwüchsige im Morgengrauen per Bahn zu Schulzentren aufmachen, weil Zwergschulen in der Nachbarschaft passé sind.

Freizügigkeit wird zum Mythos, wenn Arbeiten, Wohnen und Erholen auseinander gerissen worden sind und damit übrigens auch Familien und Freundschaftsnetze. Besteht mit anderen Worten die Kursichtigkeit auch des Mobilitätsdienstleisters Deutsche Bahn darin, immer nur mehr Personen und Tonnen auf die Schiene bringen statt an einer intelligenten Mobilitätseinschränkung verdienen zu wollen.

Die populistische Wut, die sich gegen überhitzte, verdreckte, verspätete und ausfallende Züge richtet, ist eine Klagemauer der Macht- und Hilflosen. Adressat von Kritik ist nicht allein "die Bahn", es ist eine Allparteien-Koalition, die den Schienenverkehr generell aufs Abstellgleis geschoben hat.


Claus Leggewie, geb.1950 in Wanne-Eickel, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen (beurlaubt) und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Leggewie ist seit Dezember 2008 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Er studierte Sozialwissenschaften und Geschichte in Köln und Paris und promovierte bei Bassam Tibi über Frankreichs Kolonialpolitik in Algerien. Nach der Habilitation wurde er 1986 zum Professor an der Universität Göttingen ernannt und wechselte 1989 an die Universität in Gießen. Von 1995 bis 1997 lehrte Leggewie als erster Inhaber des Max-Weber-Chair am Center for European Studies an der New York University. 2000/2001 war er Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin, 2006 Körber-Fellow am Institut für die Wissenschaften am Menschen, Wien. Leggewies Thema ist die "kollektive Identität postmoderner Gesellschaften im Zeitalter der Globalisierung". Seine Bücher handeln unter anderem vom "Islam im Westen" (1993), vom Internet (1999) und von Amerika ("Amerikas Welt: Die USA in unseren Köpfen", 2000). 2005 erschien sein Buch (mit Erik Meyer) "Ein Ort, an den man gerne geht. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik 1989".
Claus Leggewie
Claus Leggewie© Stiftung Mercator, Essen
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