Computer versus Sonne

Der Streit um die "Schaltsekunde"

Eine Atomuhr CS2 steht im Zeitlabor der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig.
So sieht sie aus: Eine Atomuhr im Zeitlabor der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig. © picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Von Ludger Fittkau, Deutschlandradio-Korrespondent Hessen · 30.06.2015
Seit 1958 wachen Atomuhren über die Zeit. Da sich die Erde unregelmäßig dreht, muss die Atomzeit wie in der kommenden Nacht mit einer "Schaltsekunde" der Rotation angepasst werden. Gerade die Energiewende könnte dabei einen Blackout hervorrufen, fürchten Experten.
Wir leben nicht nur im Atomzeitalter, sondern auch im Zeitalter der Atomzeit. Es sind Atomuhren, die seit 1958 offiziell über die Zeit wachen. Doch die Atomzeit muss immer wieder der Erdrotation angepasst werden. Denn die Erde bewegt sich zum Leidwesen der offiziellen Hüter der Zeit in den ehrwürdigen Sternwarten von Greenwich, Paris oder der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig nicht immer im gleichen Tempo. Deswegen gibt es jetzt nach drei Jahren wieder eine sogenannte "Schaltsekunde". Damit wird die Atomzeit wieder an die astronomische Sonnen- oder Erdzeit angepasst, die auch mit einer Sonnenuhr gemessen werden könnte.
"Wie die Erde steht im Verhältnis zu der Sonne, zu den Planeten zu den Sternen, das hängt von dieser Erdzeit ab. Während unsere Atomzeit, nach der wir mehr oder weniger leben inzwischen, ist ja eine ganz gleichmäßige Zeitskala, die erst einmal nichts mit der Erde zu tun hat."
Und so ist es bis heute, obwohl inzwischen kaum noch ein Kapitän auf See mit einem Sextanten navigiert, weiß der Diplom-Physiker und Astronom Wolfgang Dick. Deswegen werde die Schaltsekunde heute gar nicht mehr so recht gebraucht:
"Viele können es gar nicht mehr. Die haben vielleicht noch einen Sextanten liegen im Schiff, aber viele können es gar nicht mehr. Deswegen ist diese praktische Anwendung eigentlich obsolet geworden und die wird nicht mehr gebraucht und das ist jetzt auch ein Grund, warum man darüber nachdenkt, sie ganz abzuschaffen oder andere Formen der Korrektur einzuführen."
Zeitkontrolleure arbeiten in prachtvoller Villa
Der Physiker Wolfgang Dick arbeitet mit zwei Kollegen in einer repräsentativen Villa in Frankfurt am Main, die beinahe einmal Sitz des Bundespräsidenten geworden wäre. Nämlich dann, wenn die Mainmetropole nach dem Krieg Bundeshauptstadt geworden wäre. Doch Bonn und nicht Frankfurt wurde nach dem Krieg Bundeshauptstadt, die Zeitkontrolleure bezogen die prachtvolle Villa der Champagner-Dynastie Mumm im Frankfurter Grüngürtel. Nun wird von hier aus für die Bundesrepublik Deutschland die Bewegung der Erde und der Satelliten im Weltraum vermessen - die zentrale Dienststelle des Bundesamt für Kartographie und Geodäsie.
Wolfgang Dick wirkt von hier aus auch für eine internationale Vermessungsorganisation - dem sogenannten "Erdrotationsdienst". Der liefert amtliche Daten, um etwa den Anstieg des Meeresspiegels international nach gleichen Standards zu registrieren.
Die Sorge um einen Blackout
Doch nicht an das Meer denkt Wolfgang Dick aktuell beim Thema "Schaltsekunde". Sondern insbesondere an deutsche Mittelgebirge und die Stromtrassen, die sie durchziehen. Gerade die Energiewende könnte nämlich dafür sorgen, dass die Schaltsekunde über kurz oder lang einen Blackout hervorruft, befürchtet Wolfgang Dick. Denn desto komplexer und intelligenter die Stromnetze werden, desto mehr Risiko bringt die Schaltsekunde:
"Die Befürchtung ist, je komplexer die Systeme werden, zum Beispiel auch Stromnetze, die auch auf Bruchteile von Sekunden genau koordiniert werden untereinander. Dass dann eine Sekunde schon eine große Rolle spielt, wenn die falsch berücksichtigt wird in den Programmen, dass man da einen Ausfall haben könnte. Und bei einem Stromnetz wäre das natürlich schon sehr fatal."
Bei der letzten zur Atomzeit hinzugefügten Schaltsekunde im Jahre 2012 war es noch nicht zu größeren Netzausfällen gekommen. Lediglich einige australische Fluglinien mussten damals ihre Passagiere per Hand einchecken, weil ihre Computer ausgefallen waren. Der Internetkonzern Google hatte damals die Sekunde in Millisekunden portioniert auf die letzte Stunde vor der Umstellung verteilt, um einen Systemausfall zu verhindern – erfolgreich. Doch für die amtlichen Hüter der Zeit ist das keine Lösung, betont Wolfgang Dick:
"Das ist allerdings dann nicht exakt. Das kann man nur dort machen, wo man nicht wirklich genaue Zeitstempel braucht. Es ist nicht exakt und man kann es dann nicht vergleichen mit anderen Systemen, die Zeitangaben."
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