China

Traditionelles Eisfischen auf dem Chagan-See

Eisfischer auf dem Chagan-See
Fischen auf dem Chagan-See bei minus 24 Grad © ARD / Axel Dorloff
Von Axel Dorloff  · 25.01.2016
In der Provinz Jilin im hohen Nordosten Chinas pflegen mongolische Fischer die Tradition des mehr als 2000 Jahre alten Eisfischens. Über mehrere Wochen lang werden Unmengen Fisch aus einem der größten Frischwasser-Seen Chinas, dem Chagan Lake, herausgeholt.
Die Fischer haben aus ihrer Tradition ein jährliches Eisfisch-Festival gemacht - und sichern so ihr eigenes Überleben. Mittlerweile kommen tausende Touristen, um in klirrender Kälte bei dem Spektakel dabei zu sein.

Es ist sechs Uhr morgens, kurz vorm Sonnenaufgang. Pferde ziehen mehrere Kutschen über das Eis des Chagan-Sees in der Provinz Jilin, im Nordosten Chinas. Dick eingepackt und mit großen Fellmützen auf dem Kopf lassen sich etwa 50 Fischer kilometerweit auf den zugefrorenen See bringen. Für den 54-jährigen Fischer Zhang Wen beginnt ein weiterer Tag bei minus 24 Grad Celsius auf dem Eis.
"Das Fischen mit den Pferden - das ist eine alte Tradition. Es hat fast etwas Magisches. Es ist etwas sehr Besonderes, den Menschen das Fischen mit Pferden auf dem Chagan-See zu zeigen. Im ganzen Nordosten Chinas gibt es nur einen Ort, wo das noch gemacht wird - und das ist hier."
Der Chagan-See ist einer der größten Frischwasser-Seen in China. Das Eisfischen im Winter ist eine 2000 Jahre alte Tradition, die Fangmethode mit den Pferden geht zurück auf die Mongolen. Und wurde von Generation zu Generation weiter gegeben, noch heute gehören viele Menschen am Chagan-See zur mongolischen Minderheit. Schon bald steht die Sonne blutrot am Morgenhimmel. Soweit das Auge reicht: nur Schnee und Eis.
Mit spitzen Holzpflöcken stoßen die Fischer Löcher in das etwa 60 Zentimeter dicke Eis. Alle paar Meter ein neues Loch.
"Wir haben sehr viel Erfahrung im Fischen. Wir wissen, dass die Fischschwärme ungefähr hier sind - hier breiten wir das große Netz aus. Erst bohren wir die Löcher ins Eis. Dann lassen wir das Netz ins Wasser."
Von Loch zu Loch spannen die Männer ein Führungsseil, um das zwei Kilometer lange Fischernetz auszubreiten. Es wird mehrere Stunden dauern, bis das Netz ganz ausgelegt ist. Trotz Kälte: Zhang Wen zündet sich zwischendurch immer wieder eine Zigarette an, die er lässig im Mundwinkel hält. Zhang ist in dritter Generation Fischer.
"Die Arbeit macht Spaß. Wir unterhalten uns, machen Witze und lachen. Wir haben Freude bei der Arbeit. Und der größte Moment kommt immer dann, wenn wir viele Fische fangen. Je mehr Fische wir rausholen, desto glücklicher bin ich. Keiner hat den Job bislang an den Nagel gehängt. Egal wie kalt es auch ist, jeder ist mit Spaß dabei. Wir alle sind hier geboren. Seit Generationen leben wir hier. Wir können die Kälte aushalten - wir haben keine Angst davor."
Die Muskelkraft der Männer reicht nicht mehr aus
Die Eisfisch-Saison auf dem Chagan-See geht von Ende Dezember bis Mitte Februar. Gute 40 Tage von früh bis spät in der eisigen Kälte. Wenn der kalte Nordwind weht, sinken die Temperaturen nicht selten unter minus 30 Grad. Alles eine Frage der richtigen Kleidung, sagt Fischer Zhang.
"Ok, Ihr glaubt, Ihr habt warme Sachen an? Sie sind bestimmt nicht so warm wie meine. Sieh‘ mich an: Der Mantel hat eine Schafshaut und ein Schafsfell, meine Hose ist mit Daunen gefüttert. Wir alle tragen innen Daunen und außen Haut und Felle. Und meine Mütze ist aus dem Fell des Marderhundes. Das ist richtig warm. Sehr warm."
Die Muskelkraft der Männer reicht nicht mehr aus – die Pferde helfen mittlerweile beim Spannen des Netzes. Sie müssen immer im Kreis laufen, um die großen Holz-Spulen zu drehen, mit denen das Netz unter dem Eis gespannt wird. Der 26-jährige Liu Guangliang sitzt mit der Peitsche auf einer Holzspule und treibt gleich drei Pferde auf einmal an.
"Ich bin Bauer, ich arbeite im Sommer in den Maisfeldern. Das hier ist gut, um ein bisschen extra Geld im Winter zu verdienen. Der Job ist abwechslungsreich. Ich möchte ein bisschen mehr Geld verdienen, um ein besseres Leben zu haben. Wir sind alle Zeitarbeiter. Wir verdienen 100 Yuan pro Tag. Während des Eisfisch-Festivals verdiene ich 4.000 Yuan."
Umgerechnet fast 600 Euro - für einen einfachen Bauer vom Land ein gutes Zubrot.
Am Vormittag kommen die ersten Besucher, um den Fischern bei der Arbeit zuzuschauen. Gut 500 Meter von der Stelle entfernt, wo die Fischer ihre Netze ausbreiten, parken die Autos auf dem Eis. Es gibt heißen Tee, gegrillten Fisch und Würstchen auf dem Holzspieß: es ist das Eisfisch-Festival auf dem Chagan-See. Shi Xiaoxiao kommt aus dem benachbarten Heilongjiang - Chinas nördlichster Provinz.
"Das Fischen auf dem Chagan-See ist berühmt. Fast alle Menschen im Nordosten Chinas kennen das. Jeder möchte den Fisch hier probieren. Wenn wir ihn bestellen, war er mehrere Tage unterwegs. Aber der Fisch, den wir hier essen - der wird am selben Tag gefangen."
Fischer Zhang Wen
"Der Mantel hat eine Schafshaut und ein Schafsfell", sagt Fischer Zhang.© ARD / Axel Dorloff
Das Eisfisch-Festival ist der Versuch, mit der Tradition des Eisfischens Geld zu verdienen. Trotz der klimatischen Extrembedingungen auch im tiefsten Winter Touristen an den Chagan-See zu locken. Ihnen ein bisschen Folklore zu bieten und die mongolische, traditionelle Fangmethode vorzuführen. Und das funktioniert, sagt Fischer Zhang Wen.
"Der Tourismus ist eine große Einnahmequelle für uns geworden. Bis zu 50.000 Besucher kommen jedes Jahr. Allein 30.000 Autos kommen aufs Eis. Darauf sind wir sehr stolz. In diesem Jahr veranstalten wir bereits das 14. Eisfisch-Festival."
Ende Dezember wird das Festival jedes Jahr mit dem ersten Fang-Tag eröffnet, der größte Fisch wird dann versteigert. Ein Geschäftsmann aus der chinesischen Hauptstadt Peking hat diese Saison den Zuschlag bekommen: für 788.888 Yuan. Umgerechnet mehr als 100.000 Euro - für einen 14,5 Kilogramm schweren Fisch. Jedes Jahr werden höhere Summen gezahlt. Aber die meisten Besucher kommen, um zu gucken und etwas Fisch einzukaufen. Sowie Li Jingzhi aus der Provinz Liaoning.
"Ich finde es sehr interessant, die Fische hier so herumspringen zu sehen. Es macht viel Spaß. Ich bin gestern gekommen und werde mir einen großen Fisch mit nach Hause nehmen, um ihn zu kochen."
Ein paar Kilometer weiter am Ufer des Chagan-Sees liegt das Fischerdorf San Jia Zi. Über den Flachdach-Häusern steigt der Rauch der Kohle-Öfen auf. Es gibt eine geteerte Straße, an der ein paar Fischrestaurants liegen - über der Straße sind tausende Lichterketten gespannt.
Am Dorfrand liegt die staatliche Fischfabrik, die die Fangrechte auf dem See hat. Die Fischfabrik ist der größte Arbeitgeber im Ort, auch die Fischer vom Chagan-See sind alle hier angestellt - oder arbeiten als Tagelöhner. Feng Shanjun ist einer der Vorarbeiter. Er steht auf dem großen Innenhof der Fabrik - auf dem Boden liegen überall gefrorene Fische.
"Ich verpacke hier den Fisch - jeden Tag. Wir packen die gefrorenen Fische in die Kartons und verschicken sie dann landesweit. Wir legen die Fische alle auf den Boden. Am nächsten Morgen drehen wir sie um. Bei unseren Temperaturen hier von minus 25 Grad Celsius gefriert der Fisch sehr schnell. Dann kommt er in den Karton. Heute Abend werden die gefrorenen Fische mit dem Auto zum Flughafen gefahren. Selbst in Städten wie Shanghai oder Fujian kommen sie am nächsten Morgen an."
Fische vom Chagan-See gelten als Delikatessen
Das Geschäft brummt. Und der Online-Handel hat den Verkauf nochmal angekurbelt. Zur Eisfisch-Saison ist die Nachfrage größer als das Angebot. Über die großen chinesischen Verkaufsplattformen wie Taobao bekommen die Kunden per Klick Fische aus dem Chagan-See geliefert. Aber es kommen auch jeden Tag Besucher zur Fischfabrik - auf den Hof zum Direktverkauf. So wie die 27-jährige Luo Dandan - sie wohnt eine halbe Stunde entfernt in Stadt Songyuan.
"Die Spezialität des Chagan-Sees ist Pangtou Oder auch Silberkarpfen. Köstlich, wenn man sie brät. Die Fische hier sind wirklich groß und etwa fünf Kilogramm schwer. Ich kaufen zehn Boxen, ein paar als Geschenke und ein paar für uns selbst."
Die Fische vom Chagan-See gelten als Delikatessen. Und sie ernähren die Menschen im Dorf San Jia Zi. Das Dorf sieht gepflegt aus – die Menschen leben seit Jahrhunderten vom Chagan-See. Aber das große Hotel im Ort gibt es erst, seitdem es das Eisfisch-Festival gibt. Und auch im Winter Touristen kommen.
Wang Fengyun betreibt einen kleinen Laden, in dem man so ziemlich alles bekommt. Von der Fellmütze über Daunenhosen bis hin zu mongolischen Süßigkeiten. Kaubonbons, die nach einer Mischung aus Yoghurt und Käse schmecken.
"Das Eisfisch-Festival ist sehr gut fürs Geschäft. Alle Restaurants machen im Sommer am Südufer auf - und im Winter hier am Nordufer. Die Geschäfte der Restaurants gehen sehr gut. Die Besitzer haben alle ein eigenes Haus. Manchmal verdienen sie während des Festivals das Geld fürs ganze Jahr. Ich betreibe diesen Laden hier jetzt seit fünf Jahren - und auch für mich sind die Geschäfte während des Eisfisch-Festivals sehr gut."
Weit draußen auf dem zugefrorenen Chagan-See machen die Fischer ihre einzige Pause des Tages. Sie sitzen in einer kleinen Holzhütte mit Kohle-Ofen, essen heiße Nudelsuppe und Jiaozi – kleine gefüllte Teigtaschen. Der Fischer Zhang Wen reicht einen kleinen Mittags-Schnaps in die Runde.
"Wir halten uns mit Schnaps warm. Oder trinken ein, zwei Tassen Wein, um den Körper warm zu halten. Und wir essen viel zum Mittag. Wenn wir satt sind, gehen wir wieder raus zum Arbeiten."
Die Pause ist kurz - nach dem Mittagessen beginnt der Endspurt. Die Fischer bereiten das Einholen des Netzes vor. Mit Hilfe mobiler Diesel-Generatoren pumpen die Männer einen kräftigen Wasserstrahl auf das Netz - und unterstützen so das Herausziehen des Netzes.
Es dauert fast eine Stunde, bis das schwere Netz komplett aus dem Chagan-See geholt ist. Zehn Tonnen Fisch sind es heute. Das ist eher wenig - an richtig guten Tagen sind es bis zu 70 Tonnen.
"Es ist schon ein harter Job"
Aber die Fischer sind heute extra an einen abseitigen Ort des Sees gegangen. Um auch kleine Fische herauszuholen, die den großen Fischen sonst zu viel Sauerstoff wegnehmen. Die Fischer haben den Bestand des Chagan-Sees immer im Blick, erzählt Zhang Wen.
"Die Natur hier ist noch im Gleichgewicht. Der Chagan-See ist 442 Quadratkilometer groß. Der See ist riesig. Wir tun sehr viel Fischlaiche in den See. Wir füttern und fischen in Phasen, immer abwechselnd."
Mit dem Pritschen-Lastwagen werden die Fische zur Fischfabrik gefahren.
"Wir verkaufen unseren Fisch im ganzen Land. Auch im Süden. Unser Fisch wird sogar in Städte wie Shenzhen oder Hongkong geliefert. Oder nach Macao. Unser Fisch verkauft sich sehr schnell, meist noch am Fang-Tag. Wenn Du nach 'Chagan-See Fischfarm' suchst, kannst Du unseren Fisch kaufen. Wir können ihn sofort losschicken."
Eisfischen auf dem Chagan-See
Der Chagan-See ist 442 Quadratkilometer groß.© ARD / Axel Dorloff
Die Männer sehen geschafft aus. Und der Tag ist noch nicht zu Ende. Der 26-jährige Liu Guangliang lehnt sich auf seine Schippe, mit der den Fisch auf den LKW geladen hat. An den Rändern seiner dicken Kapuze hat sich eine Eisschicht gebildet.
"Es ist schon ein harter Job. Wir müssen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten. Ich stehe so gegen drei Uhr morgens auf und frühstücke dann noch zuhause. Und es ist schwer zu sagen, wann wir fertig sind. Wenn wir einen richtig großen Fang haben, arbeiten wir bis in den Abend rein. Es kommt drauf an, wie viel wir fangen. "
Noch heute wählen die Fischer aus, an welcher Stelle des Sees morgen gefischt wird. Und bringen das riesige Netz schon mal dort hin.
Die Besucher des Eisfischfestivals beobachten, wie der Fisch abtransportiert wird. Wer möchte, kann sich gleich ein paar Pracht-Exemplare zur Seite legen. Kong Yan ist mit ihrer Tochter Wen Xiaolin aus der Provinz Liaoning hier her gekommen. Acht Fische haben sie sich auf einen kleinen Schlitten gelegt.
"Wir sind zwei Tage mit dem Auto hierher gereist. Wir haben und das Winter-Fischen immer so großartig vorgestellt - deshalb wollten wir unbedingt mal dabei sein. Wir haben uns einige große Fische ausgesucht, ein paar als Geschenke für Freunde. Die anderen essen wir hier."
"Ich finde es hier toll. Es gibt so viel Schnee. Und der leckere Fisch. Zuhause sind die Fische immer sehr klein, hier sind die Fische richtig groß."
Die neunjährige Wen Xiaolin steigt gerade vom Hunde-Schlitten – damit lassen sich die Besucher des Eisfisch-Festivals über den zugefrorenen See fahren. Bei strahlendem Sonnenschein und klirrender Kälte: höher als minus 20 Grad Celsius steigen die Temperaturen heute nicht.
Das Eisfischen am Chagan-See gehört in China mittlerweile zum nationalen Kulturerbe. Ein Extremfischen unter körperlicher Höchstleistung. Und eine traditionelle Fang-Methode, die den Menschen vom Chagan-See den Tourismus und damit eine neue Einnahmequelle gebracht hat. Und trotzdem: So mancher freut sich hier vermutlich auf den April: dann beginnt am Chagan-See das Sommerfischen.
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