Charleston-Anklänge und imitierte Volkslieder

Von Uwe Friedrich · 07.03.2010
Das neureiche Ehepaar Kampf will seinen sozialen Aufstieg mit einem großen Ball krönen, zu dem die Spitzen der Gesellschaft eingeladen werden. Nur die pubertierende Tochter Antoinette soll nicht dabei sein. Kurzerhand rächt sie sich, indem sie die 200 Einladungen nicht in den Briefkasten wirft, sondern in den Fluss.
Der Abend wird zur Katastrophe, keiner der Eingeladenen erscheint. So wird der Streich einer verärgerten Tochter zur vermeintlichen sozialen Demütigung der jüdischen Eltern und endet mit dem Nervenzusammenbruch der Mutter.

Der argentinische Komponist Oscar Strasnoy nahm eine Novelle von Irene Nemirovsky zur Vorlage für seine Oper "Le Bal", die unter der musikalischen Leitung von Simone Young an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt wurde.

Unter dem Gesamttitel "Trilogie der Frauen" wurde das neue Werk umrahmt von Arnold Schönbergs "Erwartung" (1909) und Wolfgang Rihms "Das Gehege" (2005). Ein innerer Zwang für diese Zusammenstellung erschließt sich allerdings nicht. Während "Erwartung" und "Das Gehege" symbolistisch überhöhte Kunstwelten entwerfen, gibt sich "Le Bal" heiter und unterhaltend.

Strasnoy bedient sich geschickt bei französischen Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts und setzt deren Formensprache elegant neu zusammen. Dabei entsteht durchaus etwas Eigenes, das hat Witz und Esprit und macht Effekt beim Publikum. Charleston-Anklänge und imitierte Volkslieder, der ironische Konversationston französischer Operetten der Zwischenkriegszeit, hier zeigt sich Strasnoy als bauchrednerisch hochbegabt. Allerdings verzichtet der Regisseur Matthew Jocelyn auf eine Zuspitzung der Konflikte. Wo Strasnoy auch Gustav Mahler zitiert, um die jüdische Herkunft der Neureichen hörbar zu machen, lässt Jocelyn sich die Chance entgehen, den vergeblichen Aufstiegswillen des Ehepaares durch die Herkunft zu motivieren.

Auch das obszöne Liebeslied der Gouvernante wird nicht durch Bühnenaktionen beglaubigt. So lacht das Publikum zwar, aber bloß weil es den Text in den Übertiteln mitlesen kann, nicht weil etwas Groteskes auf der Bühne passiert. Das Jocelyn die Möglichkeiten der Oper ungenutzt verstreichen lässt, verwundert umso mehr, als der Regisseur auch der Librettist dieser Uraufführung ist.

Auch stand ihm mit Peter Gaillard als spiellustiger Herr Kampf, Miriam Clark als höhensichere Klavierlehrerin, Miriam Gordon-Stewart als hinreißend zickige Frau Kampf und der abgründige Trine W. Lund als pubertierende Tochter Antoinette ein Ensemble zur Verfügung, das viel mehr aus der Vorlage hätte herausholen können.

Für Arnold Schönbergs Monodram "Erwartung" ließ Jocelyn sich vom Ausstatter Alain Lagarde die Todeszelle eines amerikanischen Gefängnisses auf die Bühne stellen, in der eine Frau (großartig gestaltet von Deborah Polaski) zur Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl vorbereitet wird. Schönbergs Monodrama als Reenactment-Therapie einer Mörderin, das verflacht das noch immer verblüffend moderne Stück doch ziemlich. Vor allem, weil der Regisseur keine Haltung zur Todesstrafe entwickelt. So wird "Erwartung" weder zum Psychogramm der Mörderin noch zu einer Stellungnahme zur Todesstrafe (egal ob pro oder contra...).

Wolfgang Rihms "Das Gehege" spielt schließlich im Skelett eines Riesenadlers. Das monumentale Suppenhuhn verkörpert kaum noch ein mythisches Deutschland, an dem sich eine Frau in symbolmächtig überhöhter Sprache abarbeitet. Lediglich die Einheitsszenen auf einem Fernsehbildschirm verweisen noch auf den politischen Inhalt des Werks, so bewegt sich die Sopranistin Hellen Kwon angemessen exaltiert über die Bühne, um sie schließlich erschöpft zu verlassen, ohne das ein tiefere Sinn offenbart worden wäre.

Es bleibt immerhin der Genuss der anspielungsreichen und doch eigenwilligen Strauss-Paraphrase Rihms. Hellen Kwon singt klar und berührend, auch die Dirigentin Simone Young setzt mit den Hamburger Philharmonikern auf romantischen Schönklang.

Die Beziehungen zwischen Schönberg, der die Türen ins 20. Und 21. Jahrhundert aufstieß, und Rihm, der sich als Bewahrer romantischer Traditionen zeigt, werden sehr schön deutlich. Wenn sich die Intendantin Young nun noch durchringen könnte, interessante Regisseure an die Elbe zu holen, können auch rundum überzeugende Aufführungen entstehen.