Chaos zwischen Mars und Erde

24.03.2013
Reinhard Jirgl schafft eine raffiniert konkrete Utopie: Bereits in der achten Generation leben Menschen auf dem Mars, allerdings unterirdisch. Sie wollen den Durchbruch schaffen, mit dem sie die Marsoberfläche bewohnbar machen. Dafür müssen sie auf die Erde und bringen dort die gesellschaftliche Ordnung durcheinander.
Reinhard Jirgl ist, obwohl er mit allen Ehren bis zum Büchner-Preis ausgestattet wurde, der große Unbekannte in der deutschen Gegenwartsliteratur. Er hat die Verwerfungen der DDR wie diejenigen der fortgeschrittenen westlichen Wohlstandsgesellschaft verzeichnet, unbeirrbar und mit einer Geschichtsanalyse, die an Heiner Müller anknüpft und den einzelnen Menschen einem Moloch ausgeliefert sieht, der über ihn hinwegwalzt.

Seine eigentümliche Grammatik und Rechtschreibung, die ein eigenständiges Zeichensystem ausbildet, tut ein übriges dazu. Wer jetzt seinen neuen Roman aufschlägt, wird aber gleich zweimal überrascht. Erstens scheint es sich um eine Art Science-Fiction zu handeln – der Roman spielt im 25. Jahrhundert! – und zweitens gibt es Passagen, die tatsächlich ganz getreulich in der normalen Rechtschreibung geschrieben sind. Das beruht jedoch beides auf einem ausgefeilten ästhetischen Konzept.

Bei näherem Hinsehen entwickelt Jirgl konsequent seinen Schreibansatz weiter und bearbeitet seine bekannten Themen. Seine Zukunftsvision ist aus konkreten Wissenschaftsansätzen heraus entwickelt: die Pläne der US-amerikanischen Weltraumbehörde Nasa, mittels eines "Terraforming"-Projekts den Mars langfristig mit einer Erdatmosphäre auszustatten und potenziell bewohnbar zu machen, haben offenkundig Pate gestanden.

Im Roman leben nun tatsächlich Menschen in der achten Generation auf dem Mars, unterirdisch, mit einem geschlossenen Sauerstoffsystem, und sie stehen kurz vor dem entscheidenden Schritt: mit einer gezielten Detonation soll die Achse des Mars so verändert werden, dass dieselbe Ausrichtung zur Sonne wie bei der Erde erreicht wird und die Marsoberfläche besiedelt werden kann.

Auf der Erde selbst leben mittlerweile, infolge eines genetischen Defekts, der infolge maßloser Energiekriege eingetreten ist, ruhige, pazifistisch eingestellte Menschen. Auf dem Mars hingegen herrschen Zustände wie vormals auf der Erde: Drei große politische Blöcke konkurrieren um die Vorherrschaft, nur das Sonnenprojekt wird gemeinsam betrieben.

Der Ich-Erzähler, den der Leser in dieser raffiniert konkreten Utopie begleitet, erlebt die Umstände des Mars-Projekts hautnah mit. Die kriegerischen Mars-Menschen sind wieder für eine gewisse Zeit auf die Erde zurückgekehrt, um die Detonation durchzuführen, sie stellen nebenbei auch wieder die alten Machtverhältnisse auf der Erde her. Doch der große, der größenwahnsinnige Versuch auf dem Mars scheitert. Der Planet wird auseinandergerissen, und der Marsmond Phobos saust wie ein unheilvoller, überdimensionierter Meteorit auf die Erde und löscht die Menschheit aus. Übrig bleiben die "morphologischen Bücher", eine neue, organische Spezies, die die Geschichte aufzeichnen.

Dies ist mit all seinen verschiedenen philosophischen, spielerischen, narrativen Ebenen ein hochkomplexer Roman, der etliche spekulative Interpretationsanreize bietet und Jirgls literarischen Kosmos virtuos neu vermisst: eine Vermischung von Hochkultur und Fantasy-Momenten, wie sie im Moment kein anderer so anspielungsreich konzipieren kann. Dieser Autor ist im gegenwärtigen Literaturbetrieb eine einsame Größe.

Besprochen von Helmut Böttiger

Reinhard Jirgl: "Nichts von euch auf Erden"
Hanser Verlag, München 2013
510 Seiten, 27,90 Euro