Buchmessen-Gastland Rumänien

"Unsere Utopie ist Normalität"

Anti-Regierungsproteste in Bukarest
Gegen Korruption und Vetternwirtschaft: Anti-Regierungsproteste in Bukarest © dpa / Tudor Vintiloiu / Sputnik
Von Jörg Plath · 02.03.2018
In Rumänien gehen zurzeit Tausende auf die Straße, um gegen Korruption zu demonstrieren. Gerade die Jugend möchte die "Kleptokratie" nicht weiter hinnehmen, setzt sich für ein "neues Rumänien" ein. Auch in der Literatur des Landes spiegelt sich der Aufbruch der Gesellschaft wider.
"Was wir letztes Jahr im Februar und dieses Jahr vor zwei Wochen erlebt haben, nämlich 100.000 Leute auf den Straßen, das war für mich sehr ermutigend. Denn es waren normalerweise junge Leute, Leute, die nicht die Erfahrung des Kommunismus hinter sich hatten, also keine Erfahrung der Angst, Verdacht und solche Sachen. Die Tatsache, dass diese Leute auf den Straßen waren, ist ein Symptom sozialer Gesundheit, meiner Meinung nach."
Es tropft in Bukarest, besonders von leerstehenden, prächtigen alten Häusern, mal vom schmelzenden Schnee, mal von summenden Klimaanlagen. Rohre lecken, Leitungen sind defekt, Regenrinnen enden im Nirgendwo. Die Zahl der schon zu Ceauşescus Zeiten verfallenden Gebäude der Gründerzeit, des Jugendstils, des Bauhauses und einiger weiterer Architekturstile ist gewaltig.
Es wird saniert, aber nicht genug. Das Geld fehlt, oft sind die Besitzverhältnisse auch 28 Jahre nach der Wende unklar. Das Wasser setzt den Häusern in der rumänischen Hauptstadt unübersehbar zu.
Ob der stete Tropfen der seit einem Jahr andauernden Proteste auch die Macht der Regierung aushöhlt? Sie ist zurzeit in den Händen der Sozialdemokraten, den ehemaligen Kommunisten. Gegen ihre Pläne einer Selbstamnestierung demonstriert auch der wichtigste rumänische Schriftsteller Mircea Cărtărescu.
"Es wäre niemand auf die Straße gegangen, wenn die gegenwärtige Regierung bei dem Programm geblieben wäre, mit dem sie die Wahl gewonnen hat. Niemand geht bei Eiseskälte raus, um irgendwelche Mauern anzubrüllen. Die Menschen haben ihre eigenen Probleme, ihre Arbeit. Sie haben genug zu tun. Niemand möchte als zivilgesellschaftliches Bewusstsein durch die Gegend laufen. Das tut man erst dann, wenn es anders nicht mehr geht."

"Ich habe kleine Momente von Optimismus"

Mehr als 1000 Politiker und Spitzenpolitiker wurden seit 2013 wegen Korruption und Amtsmissbrauch verurteilt. Eben diese Politiker wollen nun diese Gesetze ändern, um künftig straffrei auszugehen, und sie wollen die von der EU unterstützte Justiz in Ketten legen. Gegen die Demontage des Rechtsstaats und die Willkür der in die eigenen Taschen wirtschaftenden "Kleptokratie" demonstrieren seit Anfang 2017, seit mehr als einem Jahr, Hunderttausende im ganzen Land. Unterstützt auch vom angesehenen Kulturwissenschaftler Andrej Pleşu, der nach der Revolution 1989 zwei Jahre Kultur- und dann ebenso lange Außenminister war, um schließlich ermüdet zurückzukehren zur Wissenschaft.
"Aber sie sind noch nicht politisch organisiert. Und das kann so weitergehen, ohne dass die Regierung das als Zeichen betrachtet und als Motivation für etwas. Aber es gibt auch Hoffnung, und ich hoffe, langsam wird die Opposition stärker werden. Ich habe kleine Momente von Optimismus."
"Unsere Utopie ist die Normalität", sagt Andrej Pleşu und zeigt vorsichtigen Optimismus gegenüber den deutschen Journalisten, die das rumänische Kulturministerium zur Vorbereitung des Auftritts als Gastland auf der Leipziger Buchmesse eingeladen hat.

"Wir dachten damals, Politik sei notwendig"

In Bukarest setzt nicht nur die Nässe den Gebäuden zu. An vielen Häusern verkündet eine leuchtend blaue Plakette, in welche von vier seismischen Risikoklassen das Gebäude eingeteilt ist. 374 Häuser, die bei einem Erdbeben – das letzte erschütterte 1977 die Stadt – in sich zusammensinken würden, sind geräumt, darunter wunderschöne Kinos und Theater, nicht selten Bauhausmonumente. Nicht nur am achtspurigen Bulevardul General Gheorghe Magheru wechseln leere Läden mit vollen, dunkle Schaufenster mit hell erleuchteten.
"Ich bin in der Politik wegen der Wende 1989. Wir dachten damals, Politik sei notwendig. Alle Intellektuellen, Künstler, Maler, Musiker, gingen in die Politik, weil sie glaubten, es brauche eine Veränderung der Mentalitäten und die Perspektive der Kultur."
Einst waren 25 Mitglieder des Schriftstellerverbands im Parlament, erzählt Varujan Vosganian in der prächtigen Buchhandlung Cărtureşti, einem ehemaligen Adelspalast in der Leipziger Straße, der Strada Lipscani. Nun sind es nur noch zwei: Einer von ihnen ist Vosganian, der mit überwältigender Eloquenz ungebrochenen Optimismus verströmt.
Der Vorsitzende der armenischen Minderheit Rumäniens wird in Leipzig den Erzählungsband "Als die Welt ganz war" vorlegen. Dem Schriftsteller zollen auch die Kollegen Respekt – dem Politiker allerdings nicht. Vosganian sitzt der rechtsliberalen, populistischen Partei Alde vor, die mit den Sozialdemokraten die Regierung stellt, und das Treffen mit ihm steht unter Zeitdruck: "Heute um drei Uhr wird die neue Regierung gewählt, und ich muss eine Rede halten."
Mehr als einmal bekleidete der hochgewachsene, braungebrannte Mann mit dem weißen Haar hohe Regierungsposten. Nun ist er Vorsitzender einer Regierungspartei und der der armenischen Minderheit, stellvertretender Vorsitzender des mächtigen Schriftstellerverbandes und noch einiges mehr. Von seinen Erzählungen spricht er nicht, lieber höchst allgemein und eher salbungsvoll von den Unterschieden zwischen Politik und Literatur.
Als Vosganian schließlich nach der Korruption in der Politik und den Regierungsplänen zur Justizreform gefragt wird, reagiert er verärgert, wird einsilbig und eilt davon über die Lipscani, die Leipziger Straße, mit ihren Gründerzeitprachtbauten, den mühsam gesicherten Ruinen und den Baulücken zwischen den hippen Bars ins Parlament.

Mit Varujan Vosganians Stimme wird an diesem Tag der dritte Ministerpräsident innerhalb eines Dreivierteljahres gewählt: Viorica Dăncilă, eine bis vor kurzem auch in Rumänien unbekannte Abgeordnete des EU-Parlaments. 27 Minister besitzt ihre Regierung. Darunter ist ein neuer Kulturminister, der sechste der Legislaturperiode. Der Herr über Schulen und Universitäten bringe nicht unbedingt die besten Voraussetzungen mit, meinen die rumänischen Zeitungen – und der Direktor des Verlegerverbands Mihai Mitrica:
"Schauen Sie sich sie den neuen Kulturminister an. Bisher war er Präsident einer kleineren Universität in der Provinz. Er beherrscht Rumänisch nur schlecht, er macht viele grammatikalische Fehler. Und nun leitet er das rumänische Bildungssystem!"
"Glücklicherweise können wir noch an der Leipziger Messe teilnehmen. Das heißt, die Kultur funktioniert noch irgendwie. Das hat auch vor der Wende funktioniert. Man hat bei uns über Resistence durch Kultur gesprochen. Ich bin nicht ganz damit einverstanden, denn eine resistierende Armee ist eine, die noch zuschlägt. Aber Überleben durch Kultur, das schon."

Vom rein Ästhetischen zum Ethischen

Ungeachtet der politischen Stürme scheint der rumänische Auftritt als Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse ungefährdet. Mehr als 40 Titel werden auf Deutsch erscheinen, größtenteils in kleinen Verlagen wie Klak und Pop, Transit und Mikrotext, was ihre Verbreitungschancen wohl mindern wird. Prominente unterstützen die Präsentation: Literatur Nobelpreisträgerin Herta Müller, die vor Ceauşescu aus dem Banat floh, wird mit der Sängerin und Schauspielerin Milea Ada auftreten. Auch Mircea Cărtărescu, seit seiner "Orbitor"-Trilogie der unumstrittene Star der rumänischen Literatur, reist nach Leipzig, obwohl kein neues Buch von ihm auf Deutsch erscheint.
Sein Übersetzer, der Dichter Ernest Wichner, wie Herta Müller aus dem Banat ausgewandert, kann sich erst nach der Messe an Cărtărescus neuen 1000-Seiten-Roman "Solenoid" setzen. Von dem Roman erzählt Cărtărescu in der Humanitas-Buchhandlung im Bukarester Zentrum.
"In ‚Solenoid‘ habe ich es gewagt, große und humane Themen anzupacken. Die Hauptperson des Romans hat die Möglichkeit, sich selbst zu retten. Er entscheidet sich aber, bei den anderen Menschen zu bleiben und ihr Schicksal zu teilen. Es ist das erste Mal, dass ich mich für eine solche Lösung entschieden habe. Bisher waren alle meine literarischen Entscheidungen profund individualistischer Art. Erst jetzt, da ich nun schon sehr erwachsen bin, habe ich gelernt, dass es in der Literatur nicht nur um das Ästhetische und Schöne geht, sondern dass die Literatur human zu sein, dass sie auf die großen Fragen zu antworten hat. ‚Solenoid‘ zeigt, dass das Gute nicht ohne das Schöne möglich ist."
Unverkennbar ist Mircea Cărtărescus Wende vom rein Ästhetischen zum Ethischen eine Reaktion auf die prekäre Lage im Land. Die "Kleptokratie", die Rumänien ausraube, gefährde sogar die Mitgliedschaft in der Europäischen Union:
"Vor kurzem hat einer der Chefideologen der an der Macht befindlichen Partei eine verblüffende Bemerkung gemacht, die den Zynismus und das Dschungelgesetz dieser Kreise sichtbar machen. Er wurde von einem Journalisten gefragt, warum es verurteilte Straftäter im Parlament und in der politischen Verwaltung gebe. Und er hat geantwortet: Weil wir das tun können, weil uns niemand hindern kann. – Der Vergewaltiger besitzt also das Recht zu vergewaltigen, wenn er die Macht dazu hat. Der Räuber darf stehlen und morden. Ich halte diese Ansicht für neonazistisch."
Der Held der Revolution singt inzwischen auch. Mircea Dinescu, der am 22. Dezember 1989 mit glühenden Augen, inmitten einer Gruppe von stämmigen Revolutionären in Schafsfelljacken, das Ende der Diktatur ausrief, der direkt aus dem Hausarrest kam, weil er in seinen Versen kein Blatt vor den Mund genommen hatte, dieser Mircea Dinescu hat inzwischen noch weitere Talente entdeckt: Er singt seine eigenen Verse.
Er lässt seine Gedichte auf Etiketten drucken, die Flaschen des Fetească Negră zieren. Es ist Dinescus eigener Rotwein, gekeltert in seinem Gut in Cetate an der Donau. Und er ist ein begnadeter Koch und der Inhaber eines der besten Restaurants in Bukarest, dessen Name dem Freund Andrej Pleşu ein Schnalzen entlockt. "Lacrime si sfinti", das ist der Titel eines Buches von Emile Cioran.
Hell und freundlich ist das Restaurant "Von Tränen und von Heiligen". An den Wänden hängen Stickmotive, die den deutschen Besuchern typisch rumänisch erscheinen. Sie sind allerdings aus Legosteinen nachgebaut. Gabriela Adameşteanu sitzt bereits am Tisch. Die freundliche ältere Dame gilt als moderne Klassikerin der rumänischen Literatur. Doch das Restaurant ist zu laut für eine Aufnahme. Und draußen auf der Straße ist es zu kalt.
Also erzählt Gabriela Adameşteanu bei köstlicher Ciorba und Zacuscă, Gemüsesuppe und Auberginen-Tomaten-Paprika-Creme, dass sie das Schreiben jahrelang zurückstellen musste. Nach 1991 wurde sie Chefredakteurin von "22", der Zeitschrift der kritischen Intelligenz, dann PEN-Präsidentin.

"Vier Millionen Rumänen arbeiten im Ausland"

In Leipzig wird sie den Roman "Die Begegnung" aus dem Jahr 2003 präsentieren: Darin kehrt der in Italien lebende Emigrant Manu Traian in die Heimat zurück, beschattet, bearbeitet von der Securitate, die die Reise initiierte, sie steuerte und weitere Pläne mit dem Mann hat. Es ist eine Odyssee, an deren Ende die Heimat Rumänien den Reisenden nicht erkennt wie einst Penelope ihren Mann. Glücklich ist niemand in ihrem Roman, glücklich wird niemand werden.
Eine der wichtigsten Stützen der rumänischen Gesellschaft ist die Emigration. - Vier Millionen Rumänen arbeiten im Ausland. Ganze Dörfer werden nur noch von Alten und Kinder bewohnt, große Teile einer Generation wachsen ohne Eltern auf.
"Rumänien ist ein Land, in dem man sich jeden Tag fragt, ob es sich lohnt, hier zu bleiben oder ob man gehen muss." – Die Geldüberweisungen der Arbeitsemigranten stärken die rumänische Wirtschaft. Aber im Land fehlen Ärzte, Erzieher und Lehrer. Und mit ihnen die Unzufriedenen, die das Land verändern könnten, bedauert Mircea Cărtărescu.
"Vier Millionen Rumänen arbeiten im Ausland, sie sind rumänische Staatsbürger, haben aber sehr wenige Möglichkeiten, im Ausland zu wählen. Nur etwa jeder Zwanzigste wählt. Wenn alle wählen würden, würden sich die politischen Verhältnisse in Rumänien komplett verändern."
Manche Rumänen kommen wie Gabriela Adameşteanus Protagonist Manu Traian zurück in die Heimat. Könnte es ihnen attraktiv erscheinen, in einem Verlag oder einer Buchhandlung zu arbeiten, Romane oder Sachbücher zu schreiben? Kaum. Der Buchmarkt ist klein, die Branche setzt jährlich 60 Millionen Euro um – die 19 Millionen Rumänen kaufen umgerechnet auf die Einwohnerzahl, etwa halb so viele Bücher wie ihre bulgarischen Nachbarn und 30 Mal weniger als die Deutschen. Hauptberufliche Schriftsteller gibt es nicht. Selbst Mircea Cărtărescu, dessen Bücher sich in Rumänien 30.000, 40.000 Mal verkaufen, verdient sein Geld als Universitätsprofessor.
Vorschüsse sind nicht üblich. Denn die durchschnittlichen Auflagen liegen bei – ach, die zierliche Leiterin des Verlags Vremea, Silvia Colfescu, reagiert kokett.
"Warum wollen sie mich weinen sehen? Wir verkaufen zwischen 500 und 1000 Exemplaren durchschnittlich. Wenn ein Buch sehr erfolgreich ist, sind es 2000 Exemplare."
Vremea, nach der Wende gegründet, residiert in ihrer Privatwohnung. Zehn Menschen arbeiten neben Couch und Couchtisch, umgeben von Topfpflanzen. Für Silvia Colfescu und ihren Mann ist der Verlag ihr Leben. 300.000 Exemplare verkauften sie von ihrem ersten Buch Anfang der 1990er-Jahre, von Colfescus schmalem Kinderbuch über Mäusebrüder. Solche Auflagen sind unvorstellbar geworden. Am Durchschnittspreis eines Buches von acht Euro liegt es nicht, glaubt Mihai Mitrica vom Verlegerverband.

Lieber Blumen als Bücher kaufen

"Wissen Sie, wie groß der Buchmarkt in Rumänien ist, insgesamt Bücher und Schulbücher? Ungefähr 100 Millionen Euro. Und der Blumenmarkt? Er ist doppelt so groß: 200 Millionen Euros. Es ist also kein Problem des fehlenden Geldes. Das Geld ist da, wir geben es nur für andere Dinge aus."
Die Distribution ist schwierig. Großhändler gibt es nicht. Der Humanitas Verlag, neben Polirom der größte des Landes, besitzt eine Buchhandelskette. Mancher Verlag lässt seine Bücher durch eigene Fahrer ausfahren. Buchhandlungen auf dem Land sind selten. Und die Buchpreise sind nicht gebunden.
"Überleben ist das richtige Wort. Es gibt weniger als 100 Verlage, die auf einem Markt von 60 Millionen Euro miteinander konkurrieren." – Registriert aber sind sehr viel mehr Verlage als 100, nämlich 6300. Mihai Mitric nennt sie Geisterverlage. Sie verdanken sich einer grotesken gesetzlichen Regelung.
"Im rumänischen Bildungssystem kann jeder Lehrer drei, vier Seiten aus einem Buch, einer Zeitung zusammenheften, Zeichnungen hinzufügen, den eigenen Namen als Autor darüber setzen und dann die Schulkommission auffordern, dem publizierenden Autor ein höheres Gehalt zu zahlen. Jeder veröffentlicht Bücher. Es ist legale Piraterie!"

Sich aus dem Gefängnis schreiben

Legal ist so manches in einem Rumänien, dessen Regierung korrupte Spitzenpolitiker und -beamte vor Strafverfolgung schützen will. Und wenn alles nicht mehr hilft, dann hilft – nur noch ein Buch. Mit ihm kann man sich an den eigenen Haaren aus dem … Gefängnis ziehen.
"Es gibt ein Gesetz, das die Strafe eines Gefangenen um 20 oder 30 Tage verringert, wenn er ein wissenschaftliches Buch schreibt. Das war ein großer Skandal der letzten Jahre. Alle einsitzenden Tycoons begannen in großen Mengen zu publizieren und große Verlage veröffentlichten diese Bücher gegen Bezahlung."
In Rumänien ist das Parlament seit Jahren sehr freundlich zu Gefangenen, weil sie glauben, dass auch sie, die Abgeordneten, einmal einsitzen werden – also schaffen sie gute Voraussetzungen für die baldige Entlassung.
Nach dem unrühmlichen Ende Ceauşescus stand die Beschäftigung mit den Verbrechen des Sozialismus im Vordergrund. Schriftsteller wie Mircea Cărtărescu, Nora Iuga und andere wehrten sich in den 1990er-Jahren vehement gegen politische Lesarten ihrer Bücher.
Die jüngeren Autoren haben es einfacher. Die Konjunktur von Geschichte und Politik ist abgeflaut. Die literarische Szene ist ausdifferenziert, jeder Stil findet sich – allerdings rauer, ungeschliffener, wilder als in der deutschsprachigen Literatur, meint Ernest Wichner. Wer aber dezidiert politisch verstanden werden will wie der 1960 geborene Catalin Mihuleac, wählt mit Bedacht ein Tabuthema: "Oxenberg und Bernstein" erzählt vom Pogrom in der ehemaligen Königsstadt Iaşi am 29. Juni 1941, bei dem Rumänen 10.000 jüdische Landsleute umbrachten.

Die jungen Wilden

"Wenn ich über das Pogrom spreche in der jüdischen Gemeinde, in ernstem Ton, nicht frech wie im Buch – dann sitzen vier Leute im Saal." – "Oxenberg und Bernstein" erinnert an "Extrem laut und unglaublich nah" des Nordamerikaners Jonathan Safran Foer. Der Ton in einer von zwei Erzählebenen ist flapsig, frech und burlesk: Die Rumänin Sânziana heiratet in eine amerikanisch-jüdische Familie ein und entdeckt als Suzy ihre geheim gehaltene, ja, verdrängte rumänische Herkunft: Die nordamerikanische Schwiegermutter entkam dem Pogrom in Iaşi.
"Dieses jüdische Thema hat man für zu problematisch gehalten, weil es das Bild Rumäniens trüben könnte. Vielleicht sollte ich es nicht sagen, aber während ich an dem Buch schrieb, haben mich Geheimdienstler kontaktiert und mir gedroht, ich möge das bitte bleiben lassen. Es gibt berechtigte jüdische Interessen, frühere Besitztümer zurückzuerhalten, und das sieht man hier nicht gern. Wenn ich darüber schreibe, heißt es, ich befördere diese Forderungen."
"Oxenberg und Bernstein" erzählt auf unterhaltsame Weise, ohne Scheu vor Kolportage und in einem sarkastisch-frechen Ton, von einem mörderischen Antisemitismus. Es ist der erste rumänische Roman über das Pogrom, das Rumänen mit deutscher Hilfe verübte. Noch heute wollen viele in der ehemaligen Königsstadt nichts von den Verbrechen wissen. Es gibt zwar Erinnerungstafeln – sie sind jedoch klein und unauffällig.
"Man versteht einfach nicht, dass Menschen aus aller Welt kommen und auch darüber informiert werden wollen – die Tafeln sind nur auf Rumänisch. In dieser nationalistischen Leidenschaft geht man so weit, dass man sich ökonomisch auch noch schädigt – die Besucher verweilen nicht länger und lassen kein Geld in der Stadt."
Catalin Mihuleac hat zuvor als Journalist gearbeitet. Er gehört nicht zu den etablierten Autoren wie Mircea Cărtărescu, nicht zu den bekannteren der mittleren Generation wie Dan Lungu, und erst recht nicht zu den jüngeren wie Svetlana Cărstean, Ioana Nicolaie oder Florin Lăzărescu. Bei ihnen dominiert ein humorvoller "dirty realism". Für den "miseralism", wie es der Autor und Polirom-Programmleiter Bogdan-Alexandru Stănescu im Café einer weiteren, wiederum prächtigen Bukarester Buchhandlung nennt, ist Lavinia Branişte ein gutes Beispiel. Die 35-Jährige, die auch literarische Übersetzerin ist, legt nach zwei Erzählungsbänden einen Roman über eine junge Frau vor: "Null Komma Irgendwas".
"Der Roman ist inspiriert durch meine eigenen Erfahrungen, ich habe zwei Jahre in einer solchen Baufirma gearbeitet." – Braniştes Hauptfigur Cristina ist Sekretärin in einer Baufirma, die Spaniern gehört. Sie versteht nichts vom Bauen, auch nichts von Zahlen. Sie übersetzt als rechte Hand ihrer herrschsüchtigen Chefin ins Spanische, sie hat Mitleid mit den herablassend behandelten Kolleginnen, wird von einem gerissenen Kollegen als Zwischenmieterin eines Apartments ausgenommen, steckt in lieblosen Liebesbeziehungen und sehnt sich nach ihrer Mutter, die in Spanien arbeitet.

Als Schriftsteller irgendwie überleben

Lavinia Branişte ist, wie viele der jüngeren Autoren, nicht Mitglied im mächtigen Schriftstellerverband. Er erhält zwei Prozent vom Preis jedes verkauften Buches und vom Staat weiteres Geld, weiß der Direktor des Verlegerverbands, Mihai Mitrica:
"Der Schriftstellerverband bekommt 700.000 Euro jährlich vom Staat, um neun literarische Zeitschriften zu publizieren. Das ist ein stolzer Betrag, vermutlich auch in Deutschland."
Der Schriftstellerverband bietet seinen Mitgliedern Veröffentlichungsmöglichkeiten, beste Kontakte zu Verlagen, zahlreiche Stipendien, einige Villen zur Erholung und vieles mehr. Nicht zuletzt erhalten die Mitglieder eine um 50 Prozent höhere Rente. Die jüngeren Autoren halten den Verband allerdings für undurchsichtig. Er sei ein Ausbund des Klientelismus, heißt es voller Abscheu. Weder als Schriftstellerin noch als literarische Übersetzerin vertraut Lavinia Branişte ihm. Sie hat mit anderen einen eigenen Verband für Übersetzer gegründet, deren Honorar von etwa drei Euro pro Seite das niedrigste in der EU ist.
"Wir haben uns getrennt vom Schriftstellerverband, wo es auch eine Übersetzervereinigung gibt. Mit ihnen wollten wir nichts zu tun haben, weil sie uns nicht vertreten, weil sich nicht für korrekte Verträge und eine angemessene Entlohnung einsetzen. Deshalb haben wir uns selbst organisiert. Unsere Vereinigung ist erst drei Jahre alt. Wir werben Mitglieder und informieren sie über ihre Rechte."
In ihrem Roman erzählt Lavinia Branişte von der Gefahr, im ruppig-egoistischen Turbokapitalismus aufgerieben zu werden – im Alltagsleben organisiert sich die ernst und konzentriert wirkende junge Frau mit anderen. Verblüffend ähnlich scheint es sich mit Florin Lăzărescu zu verhalten. Der Roman des hyperaktiven Mittvierzigers heißt passenderweise "Seelenstarre". Das Kammerspiel erzählt schnörkellos vom ziellosen Dahinleben eines Möchtegernkünstlers.
"Einige Leute sagen, mein Stil sei von Drehbüchern beeinflusst, was seltsam ist, weil ich vorher schon drei Bücher veröffentlicht hatte und dann erst anfing, Drehbücher zu schreiben. Es ist einfach mein Stil."
Der Erfolg des jüngeren rumänischen Films ist auch den Drehbüchern von Lăzărescu zu verdanken. In Iaşi, der ehemaligen Königsstadt, organisiert der Umtriebige gemeinsam mit Dan Lungu seit Jahren Filit, ein stark besuchtes Literaturfestival. "Es kommt auf die Vermarktung an. So ist auch beim Festival. Man muss es groß machen."
Als gelungenes Beispiel für Marketing lobt Lăzărescu auch "Ego Proză", das Imprint des Verlags Polirom speziell für junge Autoren.

"Es gibt keine gute oder schlechte Literatur, es gibt nur gute oder schlechte PR. Das ist alles. ‚Ego Proză‘ wurde 2004 gegründet, ich habe das Marketing gemacht. Bevor es dieses Imprint gab, wollte niemand junge Autoren veröffentlichen. Es kommt darauf an, wie man es verkauft!"
Ein Schild in einer Filiale der Buchhandlung Humanitas mit der Aufschrift "Literatura" preist Bücher ausländischer Autoren an.
Bucher sind in Rumänien nicht gerade "der Kassenschlager": eine Buchhandlung in Bukarest.© picture alliance / Birgit Zimmermann
Die Schriftstellerkolleginnen und -kollegen neben Florin Lăzărescu, die energische Svetlana Cărstean und der versonnene Claudiu Komartin, beide Lyriker, verziehen keine Miene, hängen aber sichtlich eigenen Gedanken nach.
"Noch weitere Fragen?" – "Then we thank you very much all of you and see you soon." – See you soon in Leipzig, wenn die jungen und die etablierten Schriftsteller, unterstützt von der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die rumänische Literatur vorstellen, den Film, die Kultur – und eine Lebenshaltung des vorsichtigen Optimismus oder vorsichtigen Pessimismus, je nachdem… zu der offenbar auch Mircea Cărtărescu gefunden hat. Nach Jahren im Ausland lebt er wieder in Bukarest.
"Es gibt sehr viel Schönheit in Rumänien, wo man sie nicht erwarten würde. Und Magie. Schauen Sie sich diesen Boulevard an. Fast jedes Gebäude ist seit Jahrzehnten unrenoviert. Wo gibt es sonst in Europa einen solchen Anblick. Ich fühle mich wohl unter Ruinen. Sie kommen mir menschlicher vor, rätselhafter, melancholischer. In meiner Kindheit kam ich hierher, um ins Kino zu gehen, das war der Kinoboulevard. Wir gingen in eines dieser Kinos, um uns die nackten Brüste der Stuckdamen anzuschauen. So was gab es nicht im prüden Sozialismus. Auch damals in meiner Kindheit war dieser Teil des Bukarester Zentrums in schlechtem Zustand. Das hat sich mir tief eingeprägt. Deshalb lebe ich gerne hier und denke nicht mehr daran wegzugehen."
Mehr zum Thema