Bruttoinlandsprodukt

Das BIP ist nicht mehr zeitgemäß

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Zeitgenössische schwarzweiss Fotografie eines vollen Kaufhauses in Frankfurt, von einem erhöhten Stadtpunkt aus.
Volles Kaufhaus in Frankfurt am Main, 1963. Das BIP ist aber sehr viel mehr geworden als ein reiner Index unserer Wirtschaft, meint Sophie Pornschlegel. © picture alliance / dpa / Roland Witschel
Ein Kommentar von Sophie Pornschlegel · 13.12.2019
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Das Bruttoinlandsprodukt ist schon lange kein Maßstab des Fortschritts unserer Gesellschaft mehr. Deshalb ist es an der Zeit, neue Indikatoren zu nutzen, die auch die Qualität unseres Wohlstands messen, meint Sophie Pornschlegel.
Laut der letzten Wachstumsprognosen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit wird die deutsche Wirtschaft im nächsten Jahr nur um 0,4 Prozent wachsen. Schwaches Wirtschaftswachstum wird im allgemeinen als schlechte Nachricht aufgefasst. Es bedeutet – so die gängige Interpretation – dass wir weniger produzieren, weniger wettbewerbsfähig sind und keine neuen Arbeitsplätze schaffen. Doch Keiner stellt die Grundannahme in Frage, dass wir ständig mehr produzieren müssen, um einen immer größeren Wohlstand zu erreichen. Würden wir tatsächlich "besser" – das heißt: nachhaltiger – produzieren, dann würde das im Bruttoinlandsprodukt nämlich gar nicht auftauchen; es würde nicht gezählt.
Ursprünglich sollte das Bruttoinlandsprodukt, das zum ersten Mal in den USA im Jahr 1932 erfasst wurde, den Wert der Produktion von Waren und Dienstleistungen messen – also den Wert einer Volkswirtschaft. Doch seither ist das Bruttoinlandsprodukt sehr viel mehr geworden als ein reiner Index unserer Wirtschaft. Es ist zum Maß unseres Wohlstands geworden, zum Punktekonto unserer Gesellschaften in der globalen Wettbewerbstabelle. Je höher das BIP, desto näher die Weltmeisterschaft, so die Wachstumsfetischisten.

Prostitution, Drogenhandel und Umweltverschmutzung

Das BIP war in der Nachkriegszeit in vielerlei Hinsicht ein hilfreicher Indikator. Doch seit den 70er- und noch mehr seit den 90er-Jahren hat sich unsere Wirtschaft grundlegend verändert. Obwohl sich datenbasierte Wirtschaftsmodelle wie die "sharing economy" entwickelt haben, bleibt das BIP ausschließlich auf Waren und Dienstleistungen basiert. Immer wichtiger werdende Zweige der neuen Wirtschaft werden dadurch nicht erfasst. Stattdessen werden seit 2014 auch illegale Aktivitäten wie Drogenhandel oder Prostitution als positiver Beitrag zur Wirtschaftsleistung ins BIP mit eingerechnet.
Noch problematischer ist, dass das BIP alle negativen "Externalitäten" der wirtschaftlichen Produktion ausklammert. CO2-Ausstoß und Umweltverschmutzung werden sogar doppelt positiv angerechnet: Einmal bei der Produktion, die die Verschmutzung verursacht, ein anderes Mal bei der Beseitigung der Verschmutzung, die ebenfalls als Wirtschaftsleistung gezählt wird. Die Verteilung des Wohlstands bleibt ebenfalls aus der Rechnung ausgeschlossen, genauso wie die Qualität der Bildungs- und Gesundheitssysteme.

Was bedeutet Wohlstand?

Es ist an der Zeit, dass wir radikal umdenken und uns von alten Konzepten verabschieden. Das BIP ist, wie viele andere Indikatoren auch, ein Instrument, das einem bestimmten Zweck dienen soll. Doch wenn sich die Definition von "Wohlstand" gesellschaftlich ändert, dann müssen wir auch dringend die Indikatoren ändern.
Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt gibt es bereits viele: den Indikator wirklichen Fortschritts (GPI), den Index des nachhaltigen wirtschaftlichen Wohlergehens (ISEW), den Happy Planet Index (HPI), den Human Development Index (HDI) – oder auch den Better Life Index (BLI) der OECD. Dieser letzte Indikator basiert auf den Erkenntnissen einer Kommission aus den Wirtschaftswissenschaftlern Joseph Stiglitz, Amartya Sen und Jean-Paul Fitoussi, die kurz nach der Finanzkrise 2008 von der französischen Regierung einberufen wurde.
Doch elf Jahre nach der Weltwirtschaftskrise nutzen wir noch immer dieselben fehlerhaften, dysfunktional gewordenen Indikatoren. In einer Welt, die sich einem dramatischen Klimawandel ausgesetzt sieht und vor der Notwendigkeit einer ökonomischen Umstrukturierung steht, müssen wir die Art unseres Wirtschaftens grundlegend verändern. Deshalb ist es ein längst überfälliger Schritt, sich vom Bruttoinlandsprodukt zu verabschieden – und neue Maßstäbe für eine neue Zeit zu nutzen.

Sophie Pornschlegel ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet als Projektleiterin und Analystin beim European Policy Centre, einem Brüsseler Think Tank. Dort beschäftigt sie sich u.a. mit Europapolitik, europäischer Zivilgesellschaft, politischer Teilhabe und Demokratie in Europa. Zuvor war Sie für in Berlin bei der Denkfabrik "Das Progressive Zentrum" tätig.

© Progressives Zentrum / Per Jacob Blut
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