Bildung

"Wenn es alle haben, ist das Abitur nichts mehr wert"

Abitur-Klausuren werden in Stuttgart im Regierungspräsidium sortiert und für die Zweitkorrektur verteilt.
Abi-Klausuren: Viel zu viele werden mittlerweile geschrieben, was das Abitur entwertet. © picture-alliance/ dpa / Franziska Kraufmann
30.07.2014
Der Bildungsforscher Rainer Bölling befürchtet angesichts der vielen Traumnoten beim diesjährigen Abitur eine Entwertung des Schulabschlusses. So viele Schüler wie möglich mitzunehmen, funktioniere nur über eine Leistungsabsenkung, kritisiert er.
Dieter Kassel: Heute beginnen die Ferien in Bayern, morgen in Baden-Württemberg. Das Abitur in diesen beiden Bundesländern gilt ja gemeinhin als relativ schwierig, aber doch schaffen es immer mehr Schüler, und vor allen Dingen schaffen es immer mehr mit der maximal möglichen Durchschnittsnote von 1,0. Das könnte man erfreulich finden, ich denke mal, die betroffenen Schüler und ihre Eltern tun das auch, aber man kann das auch ganz anders sehen. Wir wollen über diese Tendenz beim Abitur jetzt reden mit dem Bildungsforscher, unter anderem ehemaligen Lehrer und Autor des Buches "Eine kleine Geschichte des Abiturs", mit Rainer Bölling. Schönen guten Morgen, Herr Bölling!
Rainer Bölling: Guten Morgen!
Kassel: Freuen Sie sich mit den Schülern und Eltern, wenn es so viele Abitur-Besteher und so viele mit Bestnoten gibt?
Bölling: Das ist für die Schüler und Eltern natürlich schön, wenn so ein Erfolg da ist, gar keine Frage, und da kann man sich auch mitfreuen, aber das ändert nichts daran, dass, also bei mir jedenfalls und manchen anderen auch, Bedenken da sind, ob das alles so sinnvoll ist, dass man die Noten so großzügig vergibt.
Kassel: Würden Sie denn sagen, diese Vergabepraxis entwertet das Abitur?
Bölling: Ja, sicher. Je mehr das Abitur haben, desto weniger wird es wert sein. Und spätestens, wenn es alle haben, ist das Abitur nichts mehr wert. Das muss man einfach ganz nüchtern sehen, ganz unabhängig von der Schwierigkeit. Und es ist klar, dass zum Beispiel die Note 1,0 heute bereits nicht mehr garantiert, dass man den Wunschstudienplatz bekommt. Es hat schon vor Jahren die Fälle gegeben, dass Leute mit dieser Traumnote nicht den gewünschten Platz bekamen, weil es mehr Bewerber mit der Note gab als Plätze.
"Abiturnoten kommen nicht allein durch die Prüfungen zustande"
Kassel: Nun sagen ja auch viele Universitäten, aber auch viele Arbeitgeber, dass die Noten nicht mehr das aussagen, was sie eigentlich wissen wollen. Aber liegt das nur an den Prüfungen, oder liegt das nicht auch schon am Unterricht davor.
Bölling: Beides natürlich. Man muss sich ja klar machen, dass die Abiturnoten nicht allein durch die Prüfungen zustande kommen, sondern auch durch den vorhergehenden Unterricht, und zwar zu zwei Dritteln. Die beiden Jahre der Qualifikationsphase zählen das, und die Abiturprüfungen selbst zählen maximal 25 Prozent mit Abweichungen eher nach unten. Und sicher haben die Abiturprüfungen seit der Einführung des Zentralabiturs auch Rückwirkungen auf den vorhergehenden Unterricht, denn es ist dort ein etwas abgesenkter Standard eingerichtet worden, der dann eben auch die vorhergehenden Noten beeinflusst. Und von daher erklärt sich das, dass in den Jahren nach Einführung des Zentralabiturs die Noten so in die Decke geschossen sind.
Kassel: Aber wenn man den, wie Sie das sagen, abgesenkten Standard wieder erhöht und damit automatisch auch mehr Schülerinnen und Schüler in der Schule scheitern lässt – ist das denn besser, wenn sie in der Schule scheitern und vielleicht dann auch anschließend im Leben?
Bölling: Die Frage ist, was bringt es uns, dass wir Schülern, die eigentlich nicht die Voraussetzungen für ein Studium haben, über das Abitur bescheinigen, dass sie die Studienbefähigung besitzen. Denn das ist ja eigentlich die Bedeutung des Abiturs. Es ist das Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife. Und die Gefahr sehe ich darin, dass jetzt auch Schüler, die vielleicht ihre praktischen Begabungen haben, aber nicht so sehr die theoretischen Begabungen, die eben fürs Abitur gefordert werden, dass die in ein Studium gedrängt werden, in dem sie dann umso eher scheitern, und dann viele Jahre mehr brauchen, um zu einer – eine berufliche Perspektive zu finden, die für ihr Leben Halt und Sinn gibt.
"Gerechtigkeitsbegriff muss differenzierter diskutiert werden"
Kassel: Nun haben wir jetzt schon, trotz dieses in Ihren Augen ja viel zu einfach gewordenen Abiturs in Deutschland die Situation, dass überdurchschnittlich viele Akademikerkinder Abitur machen und auch studieren, und dass wir da absolut keine gleichen Chancen zu haben scheinen. Wenn man jetzt nur ganz einfach sagt, wir machen die Prüfungen wieder schwieriger, und die Benotung wird wieder konsequenter, dann löst man dieses Problem ja nun überhaupt nicht.
Bölling: Ja. Der Begriff der Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit müsste natürlich mal diskutiert werden. Es gibt sicher unterschiedliche Voraussetzungen, unterschiedliche Chancen, die einfach schon durch die familiäre Herkunft bestimmt werden. Das ist leider so. Das kann jeder eigentlich beobachten. Die Frage nur, sagt man jetzt, auch diejenigen, die ein bestimmtes Leistungslevel nicht haben, kriegen das Zeugnis, das ihnen dieses bescheinigt. Da müsste aber, glaube ich, mal dieser Gerechtigkeitsbegriff etwas differenzierter diskutiert werden, als das zurzeit geschieht, wo man immer nur sagt, ja es sollen alle eigentlich die gleichen Ergebnisse haben. Es geht ja nicht um Chancen-, sondern um Ergebnisgleichheit bei unterschiedlichen Voraussetzungen, und man versucht, das einfach durch die großzügige Vergabe von Abschlüssen zu regeln. Aber gerade der Blick auf Länder, die das schon seit Längerem machen, zeigt, dass das kein zielführender Weg ist. In Frankreich hat man bereits eine Abiturientenquote von 74 Prozent, wobei diese Abiturvarianten sehr unterschiedlich gewertet sind. Und dort gibt es also ganz große Probleme für diejenigen, die schwächere Abschlüsse haben. Die haben keine besseren Chancen, sondern da gibt es viel Frustration und Diskussionen darüber, ob man das Abitur nicht abschaffen solle, weil es keinen Sinn mehr gibt.
Kassel: Aber ist es die Aufgabe der Lehrer, den Schülern zu bescheinigen, dass sie dumm sind? Oder ist es nicht eher die Aufgabe der Lehrer, dafür zu sorgen, dass sie es am Ende beim Abitur einfach nicht mehr sind?
Bölling: Also erstens mal, die Lehrer sollten nicht den Schülern bescheinigen, dass sie dumm sind, sondern sie sollten ihnen bestimmte Fähigkeiten und Leistungen bescheinigen –
Kassel: Und ihnen vorher aber ja auch vermitteln.
"Schüler sind keine Werkstücke, an denen Sie arbeiten können"
Bölling: Die vorher vermitteln, ja. Nur, die Frage ist, kann ein Lehrer nun unabhängig von den Voraussetzungen, die Schüler mitbringen, und dazu gehört auch die Intelligenz, ihnen alles vermitteln? Es ist so eine Vorstellung aufgekommen, dass eigentlich die Schule da alles machen könnte. Aber was mache ich mit einem Schüler, der praktisch begabt ist, den aber die theoretischen Anforderungen im Hinblick auf das Abitur – für den das eine Schwierigkeit ist und der sich dem lieber entzieht und so weiter. Das ist nicht so einfach, zu sagen, die Lehrer müssen das vermitteln. Schüler sind keine Werkstücke, an denen Sie arbeiten können, und dann schneiden Sie noch ein bisschen ab und so weiter, und so weiter, sondern das sind Menschen mit sehr unterschiedlicher Prägung, und die müssen auch manche Voraussetzungen mitbringen, um von sich aus auch zu diesem Lernerfolg beizutragen.
Kassel: Das klingt mir aber so, als müssten die Schüler zur Schule passen. Ich hatte immer eher die Idee, die Schule muss eher zu den Schülern passen.
Bölling: Sie spielen jetzt an auf die unterschiedlichen Schultypen?
Kassel: Nein, nein, ich spiele darauf an, dass Sie ja sagen, wenn der Lehrer dann jemanden vor sich hat, den er nicht dahin kriegen kann, wo er ihn hin haben will, ist das das Problem des Schülers. Da bin ich mir nicht so sicher. Ich meine, Sie werden nicht damit leben können, wie ich das jetzt sage, aber für mich ist ein Lehrer ja auch ein Dienstleister, der sich auf die jeweiligen Schüler einstellen muss. Der kann doch nicht einfach sagen, du passt hier nicht hin, dann eben nicht.
Bölling: Nein, es ist ja nicht einfach ein "passt du nicht hin", aber was machen Sie denn als Lehrer, wenn Sie gewisse Dinge erklären und so weiter, und die meisten Schüler haben das verstanden und können das, und es gibt welche, die es nicht können? Hat jetzt der Lehrer versagt, wenn 90 Prozent seiner Schüler es hinkriegen und zehn Prozent nicht?
"Leistungsabsenkung steht meist dahinter, wird aber nicht gesagt"
Kassel: In meinen Augen schon. Es gibt ja auch viele pädagogische Konzepte, wie man die zehn Prozent noch mitnehmen kann, nicht zuletzt mit Hilfe dieser 90 Prozent.
Bölling: Da muss ich sagen, muss ich aus meiner Erfahrung sagen, manche dieser pädagogischen Konzepte sind auf dem Papier schön, aber wie das wirklich durchgeführt werden soll – und unter der Hand: Es läuft über Leistungsabsenkung, das steht meist dahinter, wird aber nicht gesagt. Wenn man natürlich die Anforderungen entsprechend senkt, dann kann man ganz viele, vielleicht alle mitnehmen.
Kassel: Sagt Rainer Bölling, Bildungsforscher und Autor des Buches "Eine kleine Geschichte des Abiturs" hier im Deutschlandradio Kultur. Herr Bölling, auch, wenn wir uns nicht einig geworden sind, danke ich Ihnen sehr für dieses Gespräch!
Bölling: Ja, bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.