Beweglichkeit beweisen

Von Arno Orzessek · 18.03.2012
Es war der Sonntag des Präsidenten - und ein Vergnügen, ihn bei seiner heiteren Amtsausübung zu beobachten.
Geistesgegenwärtig und witzig, geschichtsbewusst bis hinab ins 18. Jahrhundert, kritisch gegenüber den Medien-Ritualen während der Causa Wulff, gelehrt, ironisch und sogar frech moderierte Bundestagspräsident Norbert Lammert die Versammlung, die dann Joachim Gauck zum elften Bundespräsidenten gewählt hat.

Gauck aber war klug genug, in seiner Dankesrede nicht mit dem brillanten Conferencier Lammert zu konkurrieren und auf sprachliche Finessen weitgehend zu verzichten.

Obwohl Gauck durchaus große Worte sagte, dosierte er die staatspfarrerhafte Inbrunst, die ihm viele Freunde und manchen Gegner beschert hat, recht sparsam. Sein Tonfall blieb eher sachlich-intellektuell. Der Mann, dem ein hinreichendes Quantum Eitelkeit nachgesagt wird, badete sich weder in der großen Zustimmung, die ihn ins Amt getragen hat, noch in seiner Rührung. Und er ließ souverän offen, wie er die immensen Erwartungen zukünftig im Einzelnen erfüllen will.

Allein am Anfang erlaubte sich Gauck einen rhetorischen Kniff. Er deklamierte "Was für ein schöner Sonntag!" und legte eine kurze Kunstpause ein - lang genug, um die Zeit zurückzudrehen. An dem gemeinten Sonntag, dem 18. März 1990, hatte es in der DDR die ersten freien Volkskammerwahlen gegeben ...

Nach "56 Jahren unter der Diktatur", wie Gauck hinzufügte. Und er wird sich bewusst gewesen sein, dass seine laxe gedankliche Verklammerung von Nazi- und SED-Diktatur nicht wenigen gleichmacherisch und darum anstößig erscheint. Er ist allemal der Richtige, um diese Sache bei Gelegenheit auf hohem Niveau zu diskutieren.

So oder so: Es stellte sich ein Bundespräsident vor, der sein Amts- und Selbstverständnis an den Hauptkoordinaten der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts ausrichtet. Und der deshalb den tosenden Applaus der aufgeräumten Versammlung ernten konnte, als er sagte, was aus dem Munde Christian Wulffs oder Horst Köhlers etwas komisch geklungen hätte: "Ich werde niemals, niemals eine Wahl versäumen."

Woraufhin Gauck ein weiteres Mal seine Lieblingsbegriffe Freiheit und Verantwortung durchdeklinierte und als Gewährsmann für sein Verständnis von Bürgerlichkeit nicht zufällig Dolf Sternberger anführte. Der Politikwissenschaftler Sternberger hatte einst bekannt, während der Hitler-Diktatur das Politische aus seinem radikalen Gegensatz erlernt zu haben und dadurch zum Lehrer der Freiheit geworden zu sein.

Fundamente und Vorzüge der Demokratie mit suggestiver Überzeugungskraft zu vertreten, darin ist auch Gauck, dessen Brotberuf jahrzehntelang die Evangeliumsverkündigung war, ein Meister.
Genauso klar ist indessen, dass die Beherrschung des demokratischen Katechismus noch keinen starken Bundespräsidenten macht. Grundsatzreden bergen die Gefahr, bei häufiger Wiederholung zur Litanei zu werden; Großbegriffe wie Freiheit können ausleiern, auch wenn ein Gauck sie würdevoll benutzt.

Dass der frisch gewählte Bundespräsident in einer beinahe verstohlenen Nebenbemerkung ankündigte, sich auch auf "neue Probleme und Personen" einlassen zu wollen, spricht dafür, dass er um die Fallstricke des Pastoralen und Salbungsvollen weiß und über den Staatspfarrer hinaus will. Darauf aber darf man gespannt sein: Gauck zu Europa, Gauck zur Finanzkrise, Gauck zur Integration, zur Umweltpolitik, womöglich sogar zum Mindestlohn oder zur Energiewende; kurz: Gauck zum 21. Jahrhundert, wie es den Bürgern der Bundesrepublik auf den Nägeln brennt.

Bis zum heutigen Tag hat Joachim Gauck seine Standhaftigkeit bewiesen. In Zukunft wird auch seine Beweglichkeit gefragt sein.



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