Beuys’ politisches Erbe

Zukunftsdenker und Wegweiser

04:35 Minuten
Joseph Beuys.
Joseph Beuys ging es letztlich überall um das freie, schöpferische Individuum und sein Zusammenspiel mit anderen, meint Philip Kovce, © IMAGO / Everett Collection
Überlegungen von Philip Kovce · 28.01.2021
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Joseph Beuys war mehr als Aktionskünstler und Kunsttheoretiker. Er beschäftigte sich auch intensiv mit gesellschaftlichen Fragen wie dem Grundeinkommen und Volksabstimmungen. Seine Ideen bleiben weiterhin relevant, meint der Philosoph Philip Kovce.
Wer 1972 auf der legendären documenta 5 ein Kunstwerk von Joseph Beuys bestaunen will, der wird seinerzeit enttäuscht. Zwar ist Beuys wiederholt eingeladen, in Kassel auszustellen, doch was er dort schließlich präsentiert, ist kein Kunstwerk im gewöhnlichen Sinne.
Stattdessen richtet Beuys ein Büro der "Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung" ein – eine Initiative, die er 1971, vor genau 50 Jahren also, gemeinsam mit anderen ins Leben gerufen hat. Während der 100 documenta-Tage erörtert Beuys mit den Besuchern Sinn und Zweck direkter Demokratie sowie Möglichkeiten ihrer Verwirklichung.


Aus Sicht von Beuys ist diese eigentümliche Verbindung von Kunst und Politik durchaus folgerichtig. Wenn – gemäß Beuys’ "erweitertem Kunstbegriff" – jeder Mensch ein Künstler ist, dann gilt es, auch die Gestaltung der Gesellschaft, mithin die Politik unter künstlerischen Gesichtspunkten jenseits von Kitsch und Kommerz zu betrachten.

Das politische Geschäft als Kunst im Sozialen

Überall ging es Beuys letztlich um das freie, schöpferische Individuum und sein Zusammenspiel mit anderen. Dementsprechend fabrizierte Beuys nicht irgendeine Art selbstgefälliger politischer Nischenkunst, sondern umgekehrt: Beuys betrieb das politische Geschäft als Kunst im Sozialen. Es ging ihm – mit Friedrich Schiller gesprochen –, ausgehend von der "ästhetischen Erziehung des Menschen", nicht zuletzt um die Errichtung eines "ästhetischen Staates".
Direkte Demokratie schien Beuys die angemessene, zeitgemäße Form der Selbstregierung ebenso freier wie gleicher Bürger – weshalb er auch nicht müde wurde, darauf hinzuweisen, dass das Deutsche Grundgesetz in Artikel 20 Volksabstimmungen, wie sie etwa in der Schweiz längst gang und gäbe sind, ausdrücklich legitimiert.

Die Grünen und Volksabstimmungen

Dass dennoch bis heute keine bundesweite Volksabstimmung stattgefunden hat und ausgerechnet die Grünen, deren Gründung Beuys entscheidend vorantrieb, auf ihrem jüngsten Parteitag diese Kernforderung fallenließen, gehört zur Ironie der Geschichte.
Freilich ist direkte Demokratie für Beuys nur ein Gestaltungselement der – wie er es nennt – "sozialen Plastik", anders gesagt: der Gesellschaft als Gesamtkunstwerk. Sein 1978 veröffentlichter "Aufruf zur Alternative" kennzeichnet individuelle Freiheit, demokratische Gleichberechtigung und ökonomische Solidarität als drei menschliche Grundbedürfnisse, die zu befriedigen nicht nur direkte Demokratie, sondern auch freie, selbstverwaltete Schulen und Hochschulen, ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie sinn- statt gewinnmaximierende Unternehmen erfordere.

Seine Bedeutung im Hier und Jetzt

Sind diese beuysianischen Forderungen inzwischen überholt? Keineswegs! Beuys Losung, dass es auf jeden Einzelnen ankomme, ist ebenso aktuell wie seine Überlegungen zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Mit seinem "erweiterten Kunstbegriff" befreite Beuys die Kunst aus den Fängen der teils elitären, teils populären Kulturindustrie sowie die Politik aus dem Würgegriff der Parteienherrschaft. Kunst dient Beuys zufolge gerade nicht der Freizeit und Unterhaltung, sondern der Selbstbildung und Gesellschaftsgestaltung – und genau in diesem Sinne der Politik.
Kurzum: Radikal demokratisch, radikal sozial, radikal liberal – mit diesem eigenwilligen politischen Profil sorgte der Künstler Joseph Beuys zeitlebens für Aufregung. Und er wirkt auf diese Weise zugleich bis heute anregend: Dass ausgerechnet die Grünen auf ihrem jüngsten Parteitag Beuys’ Forderung eines bedingungslosen Grundeinkommens erstmals in ihr Grundsatzprogramm hievten, beweist das nachdrücklich – und gehört ebenfalls zur Ironie der Geschichte.

Philip Kovce, geboren 1986, Ökonom und Philosoph, forscht an den Universitäten Witten/Herdecke und Freiburg im Breisgau sowie am Basler Philosophicum. Er lehrte an der Berliner Universität der Künste und veröffentlichte jüngst gesammelte Kolumnen unter dem Titel: "Ich schaue in die Welt. Einsichten und Aussichten" im Verlag am Goetheanum.

© Stefan Pangritz
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