Berlinale

"Dem Nachwuchs aufs Hirn gehauen"

Auf dem Produzentenfest in Berlin am 29.09.2010
Dietrich Brüggemann © picture alliance / dpa / Soeren Stache
Moderation: Dieter Kassel |
"Kreuzweg" erzählt vom Leiden eines Mädchens, das in einer streng katholischen Familie aufwächst. Regisseur Dietrich Brüggemann sagt, er wolle damit zeigen, wie Eltern ihren Nachwuchs mit einer Ideologie unterdrücken. Dafür sei aber nicht nur der Katholizismus geeignet, sondern auch Sozialismus oder Feminismus.
Dieter Kassel: Kurz gesagt geht es in "Kreuzweg", einem der vier deutschen Wettbewerbsfilme auf der Berlinale dieses Jahr, geht es da um ein Mädchen, das in einer christlich-fundamentalistischen Familie aufwächst – keine schöne Geschichte, das ahnt man schon, aber wie schlimm diese Geschichte ist, vor allen Dingen auch, wie sie erzählt wird, das ist relativ schwer zu beschreiben. Susanne Burg versucht es trotzdem.
"Kreuzweg" ist ein Film von Dietrich Brüggemann, und der sitzt jetzt in unserem Berlinale-Studio am Potsdamer Platz. Schönen guten Morgen, Herr Brüggemann!
Dietrich Brüggemann: Ja, hallo.
Kassel: Hallo. Als ich diesen Film gesehen habe, da habe ich im Kino wirklich gelitten - was nicht böse gemeint ist, ich habe ihn gern gesehen und empfehle vielen Leuten, ihn zu sehen, aber ich habe wirklich gelitten bis zum Schluss. War das Ihre Absicht, den Zuschauer wirklich mitleiden zu lassen auf diesem Kreuzweg?
Brüggemann: Na ja, klar, der Kreuzweg funktioniert ja so: Man geht in eine Kirche, schaut sich diese 14 Bilder an und vollzieht das Leiden Christi nach, und so haben wir das auch gemacht.
"Jede Religion sagt ihren Gläubigen: Du machst nicht genug"
Kassel: Sie haben mal gesagt, bevor der Film fertig war, in Ihrem eigenen Blog, ich glaube, Ende September war das: "Ich mache jetzt einen Film, der handelt vom wildgewordenen Katholizismus." Was ist es denn, wildgewordener Katholizismus, wo ist da die Grenze? Ist es nur, wenn es so extrem ist wie in Ihrem Film oder beginnt das für Sie vorher?
Brüggemann: Ich glaube, man kann das nur in Gegensatzpaaren schildern. Also ich glaube, jede Religion hat das irgendwie in sich, dass sie ihren Gläubigen immer sagt: Du machst hier nicht genug, du bist hier zu lau, du musst hier irgendwie stärker … und dein Glaube muss mehr so brennen und so. Andererseits ist es aber, glaube ich, ganz gut, wenn die Leute einfach nur so lauwarm im Glauben sind und eben nicht radikal werden. Da ist die Kirche sich selbst gegenüber nicht ganz ehrlich.
Ich meine, ob jetzt Gott im Himmel sitzt oder nicht, das wissen wir nicht, können wir nicht sehen, aber was wir sehen, ist hier halt, was auf Erden passiert. Also wenn Leute Sonntags in die Kirche gehen und Lieder singen und die Ministranten zusammen ins Zeltlager fahren - ist doch super, habe ich überhaupt nichts dagegen. Aber wenn es dann halt so radikal wird und Gott so die erste Geige spielt in so einer Familie, und wenn da halt noch hinzukommt, dass die Familie eben halt so ein bisschen autoritär gelagert ist, dann kann so was passieren.
Kassel: In dem Film sagt das Mädchen Maria selber, aber auch die Mutter: Na ja, wenn einfach nur so mal am Sonntag in die Kirche geht - was nützt denn das? Das klingt manchmal ein bisschen, als sei es fast schlimmer, das ab und zu zu machen als gar nicht, weil man halt immer muss. Sind Sie solchen Menschen, die so sind wie das Mädchen, wie die Familie in "Kreuzweg" wirklich mal begegnet?
Brüggemann: Es gibt so Menschen, auf alle Fälle, wobei man da auch irgendwie die Grauzonen berücksichtigen muss. Also jetzt auch bei den Piusbrüdern, also es sind nicht alle Familien so drauf, da sind auch nicht alle Leute so drauf, da gibt es auch Leute, die einfach ganz normal ihren Glauben pflegen, weil sie das irgendwie gut finden und aus ästhetischen Gründen wie alte Messer schön finden, was ich auch völlig okay finde. Aber trotzdem: Durch diese Abkapselung ergibt sich halt eine Wagenburgmentalität, wo man sagt, wir haben hier das Richtige und alle anderen draußen sind irgendwie falsch. Und da gedeihen dann halt solche Sachen. Das wird schon sehr begünstigt.
Tiefreligiöse Jugendliche - "Ist das überhaupt jemand zu Hause?"
Kassel: Ich habe mich nämlich gefragt bei vielen Szenen, gerade im ersten Teil des Films: Wenn ich Maria begegnen würde oder auch ihrer Mutter, was würde ich machen? Ich würde eigentlich das Gleiche machen, was in dem Film ja auch Leute tun, der Junge in der Schule, der ein bisschen verliebt in sie ist, oder auch die Lehrerin: Ich würde versuchen, mit Vernunft darüber zu reden und was zu machen. Aber das zeigen Sie auch in Ihrem Film: Mit Vernunft kommt man an solche Menschen nicht ran, oder?
Brüggemann: Nein, man begegnet ja solchen Leuten ständig. Also jede Zeugen Jehovas, die irgendwo an der Ecke stehen und "Wachturm" in die Gegend halten, wenn man die sich mal genauer anschaut, wie die angezogen sind, was für einen leeren Blick diese Jugendlichen haben, die da immer so neben denen stehen - die sind ja völlig gehirngewaschen. Also wenn man mit denen reden will, ist ja die Frage: Mit wem spricht man denn da überhaupt? Ist denn überhaupt jemand zu Hause?
Kassel: Schon, aber wenn man zum Beispiel an Maria denkt, die ist 14! Man hat doch - und mir fällt gerade auf, ich benutze jetzt gleich ein religiöses Wort -, man hat doch das Gefühl, wenn man so was wirklich treffen würde, man will sie retten, oder?
Brüggemann: Ja, klar, das ist ja die Tragik. Der Film ist ja nun eine Tragödie.
Kassel: Woher kommt eigentlich Ihr Interesse daran? Ich meine, es gibt einen naheliegenden Gedanken, den ich auch gerne äußere: Sie sind mal fünf Jahre als Junge auf ein Stiftsgymnasium in Baden-Württemberg gegangen. Hat das irgendwas damit zu tun, dass Sie so einen Film gemacht haben?
Brüggemann: Das ist so lustig, das Stiftsgymnasium Sindelfingen ist ein unglaublich hässlicher Betonklotz aus den 70er-Jahren, was einfach aus irgendeinem Grund Stiftsgymnasium heißt, weil das seit 500 Jahren so hieß.
Kassel: Das ist gar keine erzkatholische Schule, wollen Sie mir gerade sagen?
"Ideologie gibt es nicht nur im Katholizismus"
Brüggemann: Das ist ein stinknormales süddeutsches Gymnasium mit einer Big-Band und eine Turnhalle und dem ganzen Quatsch, den man an der Schule halt so macht. Da gibt es jede Menge völlig normaler Leute, die aus dieser Schule gekommen sind. Nein, nein, ich bin jetzt auch nicht besonders religiös aufgewachsen - wobei es eine kurze Episode gab, wo wir mal so Berührung damit hatten. Wir waren als Kinder eine Weile in Südafrika und da ist ja die Kirchengemeinde auch eher so ein Ort des kulturellen Austauschs unter den vielen Deutschen, die halt da auch rumlaufen. Ist ja normal, dass sich im Ausland so Landsmannschaften bilden, an den Schulen und Kirchen. Und mein Vater ist ein bisschen älter, und der kannte halt die alte Kirche noch in seiner Kindheit. Und das, was dann da in dieser Gemeinde alles so ablief, das fand der dann irgendwie nicht so toll. Kann man durchaus auch verstehen.
Die Kirche hat sich ja dann oft in den 70er-, 80er-Jahren in so einem Hippiestyle irgendwie bewegt, dass man also in langen Gewändern und Jesuslatschen rumläuft, und dann singen die Firmlinge zur Gitarre und haben irgendwelche symbolischen Gegenstände aus Pappmaché gebaut und so - also muss man nicht so toll finden. Und aus diesem Gefühl eines Frommverlustes sind wir dann irgendwann mal tatsächlich bei der Piusbruderschaft ein paar Mal gewesen, sind dann auch da wieder weg, zum Glück, weil uns dann halt auch auffiel, dass das von der Erscheinungsform doch sehr einer Sekte ähnelt. Aber da war unser Interesse geweckt, und ich weiß nicht warum. Ich interessiere mich einfach immer sehr für solche Sachen, ich bleibe an jedem Zeitungsartikel kleben, wo irgendwie Zwölf Stämme und so …
Aber mich interessiert auch das, was dahinterliegt, nämlich eigentlich, was in einer Familie vor sich geht. Und das ist ja nun überhaupt nicht exklusiv katholisch, ich glaube, diese Art, seinem Nachwuchs aufs Hirn zu hauen mit irgendeiner Ideologie, das geht mit jeder Ideologie. Also der Katholizismus eignet sich sehr gut dafür, ihn einem 14-Jährigen um die Ohren zu hauen, das geht aber auch mit anderen Religionen, glaube ich, und auch mit anderen Welterklärungssystemen. Also der Sozialismus war da auch ganz gut für, und selbst der Feminismus - also da kenne ich Leute, die sagen, hier, meine Mutter hat mich erzogen auf eine Art und Weise, dass ich denke: Was hast du eigentlich mit mir angestellt?
"Konzentration aufs Wesentliche: die Interaktion der Leute"
Kassel: Und es geht natürlich auch, was weiß ich, mit rechten Ideologien oder anderem Kram. Wir reden heute Vormittag mit Dietrich Brüggemann über seinen neuen Film "Kreuzweg", der im Wettbewerb der Berlinale ist und da Premiere hat. Man hätte diese Geschichte, Herr Brüggemann, von den Einstellungen her und von der Kamera her relativ, in Anführungszeichen, "normal" erzählen können, dann wäre sie auch beeindruckend gewesen, aber ich glaube, nicht so beeindruckend, wie ich den Film wirklich fand. Es hieß ja vorhin schon in dem kurzen Stück, "in festen Einstellungen gedreht" - das klingt so simpel, ist auch nicht unbedingt technisch raffiniert, aber es ist sehr beeindruckend.
Jede dieser 14 Stationen, die es in diesem Film gibt, analog zum Kreuzweg - da gibt es nur eine Kameraeinstellung, keine Schnitte, nichts wechselt. Ich erinnere mich gerade an eine Szene in der Turnhalle, wo Maria mit allen anderen turnt. Ist so was nicht unglaublich schwierig zu drehen? Weil wenn man keine Schnitte hat, heißt das nicht mehr oder weniger, wenn irgendwas an der Szene nicht gut ging, muss man die komplette Szene noch mal machen?
Brüggemann: Ja, man dreht da schon immer mehrere Takes. Also das macht man beim normalen Film aber auch.
Kassel: Ja, klar, aber …
Brüggemann: Man probt es vorher einen Tag lang. Man kann so was endlos proben, zwei Tage wären bei manchen Szenen auch nicht verkehrt gewesen. Also die allermeisten Szenen haben wir geprobt, bis auf diejenigen, die nur aus Choreografie bestehen, wie jetzt zum Beispiel in der Kirche, das haben wir tatsächlich an einem Drehtag entwickelt. Also diese Arbeitsweise habe ich schon öfter ausprobiert in meinen Filmen und die schätze ich extrem, weil es einfach eine so schöne Konzentration aufs Wesentliche, das, was beim Film wirklich wichtig ist, nämlich die Interaktion der Leute, hervorbringt. Und es gibt wahnsinnig viele Gründe, die dafür sprechen, und ich könnte da jetzt eine halbe Stunde drüber reden.
Kassel: Nennen Sie doch mal drei, vier … Also jetzt mal im Ernst, weil ich hatte das Gefühl, es passt unglaublich gut zu diesem Film. Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob es zu jedem Film passen würde. Und Sie würden sagen, das kann man eigentlich bei jedem Thema, jeder Handlung gut so machen?
Bei festen Einstellungen keine aufwendigen Umbauten
Brüggemann: Nein, sicher nicht bei jedem Film, aber das ist schon eine spezielle Form, die auch einen speziellen Inhalt mit sich bringt, also paar Gründe, die dafür sprechen sind ganz, ganz kurz, also pragmatisch: Mein Hochschulabschluss-Film vor vielen Jahren, "Neun Szenen" hieß der, bestand auch aus so festen Einstellungen - da war wirklich einfach einer der Gedanken: Es geht schneller und es ist einfacher. Also ich will verdammt noch mal einen Langfilm machen, ich habe jetzt hier kein Geld, kein gar nichts. Es hatte gerade so Wackel-DV-Handkamerafilme gegeben, Netto und so, sehr erfolgreich. Da dachte ich mir: Was könnte man noch machen? Wenn ich die Kamera zehn Minuten hinstelle und laufen lasse, dann muss ich das neun Mal machen und habe 90 Minuten, so gut kann ich rechnen.
Also es macht wirklich die Sache einfacher, weil es den ganzen technischen Kram einfach entfernt, sämtliche Kamera- und Lichtumbauten fallen weg, und die sind einfach immer unglaublich aufwendig. Natürlich bringt es auch künstlerisch eine wahnsinnige Konzentration mit sich: Man muss halt das Bild finden, in das die ganze Szene reinpasst. Und dann, das muss man auch können irgendwie, dass man das dann so lebendig bespielt, dass es im Idealfall der Zuschauer gar nicht so richtig merkt, was da abgeht und ob da geschnitten wird oder nicht. Also man hat ja den ganzen filmischen Raum zur Verfügung.
Für die Schauspieler ist es wahnsinnig toll, weil sie können diese ganzen Bögen durchspielen. Das ist wirklich eine dankbare Sache, wenn man weiß, was Schauspielerei beim Film sonst bedeutet. Und für den Zuschauer halt auch. Man kommt nicht raus, man wird gezwungen, dranzubleiben. Und ich habe ja auch das Rad nicht neu erfunden. Gerade im klassischen Hollywoodkino der 50er-Jahre ist ganz viel in langen Einstellungen erzählt. Das fällt oft nicht so auf, weil die Kamera so ganz elegant bei den Leuten mitfährt, wie sie sich durch so einen Raum choreografieren. Aber auch da: Ganz selten kleben die den Leuten mal eine Großaufnahme ins Gesicht, sondern bleiben eigentlich immer auf respektvoller Distanz, sodass man die Interaktion und das Gesamtsystem sehen kann.
Kassel: Und das kann man eben bei "Kreuzweg" auch. Ich empfehle den Film. Was ich nicht tun werde, Herr Brüggemann, ist, Ihnen jetzt allzu viel Glück für die Bären zu wünschen, weil da bin ich immer ganz objektiv, weil es noch so viele andere Filme gibt, aber ich wünsche Ihnen ganz viel Glück, wenn ab dem 20. März das für alle, die mal wieder keine Berlinale-Karten ergattern, ab dem 20. März der Film "Kreuzweg" auch ganz regulär in Deutschland im Kino läuft. Herr Brüggemann, danke Ihnen sehr fürs Gespräch!
Brüggemann: Ja, danke Ihnen auch.
Kassel: Danke, tschüss!
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