Bericht aus einer Tabu-Zone

Von Karin Jäckel · 31.01.2011
Wissenschaftliche Forschungsergebnisse aus aller Welt, die nachweisen, dass Frauen nahezu ebenso oft Gewalt gegen Schwächere ausüben wie Männer, werden in Deutschland ignoriert und negiert.
"Väter sind Täter." "Gewalt ist männlich." "Jungen werden mit Tatwaffe geboren." "Wer mehr Menschlichkeit will, muss das Männliche überwinden." Schlagworte wie diese haben jahrzehntelang unsere Gesellschaft geprägt.

Wissenschaftliche Forschungsergebnisse aus aller Welt, die nachweisen, dass Frauen nahezu ebenso oft Gewalt gegen Schwächere ausüben wie Männer, werden in Deutschland ignoriert und negiert. Wer über Täterinnen publizierte, kam quasi auf den feministischen Index. Frauenschutz und Frauenförderung, hieß es aus dem Bundesfamilienministerium, sei der Entzug von Männerprivilegien. Und wenn ich zu Lesungen oder Vortragsreisen unterwegs war, um über sexuellen Kindesmissbrauch zu sprechen, der auch von Frauen verübt wird, musste ich anschließend nicht selten in Begleitung zum Bahnhof oder Hotel gehen, da mir von aufgebrachten Damen Frauenhass oder Nestbeschmutzung vorgeworfen und Strafaktionen angedroht wurden, damit ich mal wisse, "wie so was ist."

Es ist inzwischen Allgemeinwissen, dass Männer und Jungen "die Täter" sind, Frauen und Mädchen hingegen "die Opfer", die stark gemacht und durch Quoten gefördert werden müssen. Kindesmissbrauchsopfer, die von einem Mann sexuell ausgebeutet wurden, stoßen oftmals auf Unglauben und Ablehnung. Kindesmissbrauchsopfer einer Frau tun dies fast immer.

Von einer Frau missbrauchte Jungen werden zum Beispiel von Gleichaltrigen, denen sie sich anvertrauen wollen, wegen der "geilen" Erfahrung beneidet oder als "perverses Schwein" gemobbt. Von Erwachsenen werden sie als frühreife Wichtigtuer abgetan. Die landläufige Meinung, dass Jungs und Männer nicht zum Sex gezwungen werden können, schon immer vom Sex mit der eigenen Mutter geträumt und von sexuell erfahrenen Frauen profitiert haben, bringt die Opfer in eine wirklich aussichtslose Position.

Auch Mädchen, die von einer Frau sexuell missbraucht werden, sind auf eine solche Gefahr fast nie vorbereitet. Sie werden zwar vor Männern als Tätern gewarnt, doch über eine Frau als mögliche Täterin spricht niemand. So lassen sie sich vertrauensvoll auf weibliche Nähe ein und tappen in die Missbrauchsfalle, anstatt frühzeitig Warnsignale wahrzunehmen und sich möglicherweise schützen zu können.

Trotz der Straffreiheit und weiten Verbreitung ist das Lesbischsein für Heranwachsende noch immer eine Tabu-Vorstellung. So erschüttert der sexuelle Missbrauch durch eine Frau die Geschlechtsidentität eines Mädchens nicht weniger als Jungen, die zum Opfer männlicher Täter werden. Sich Freundinnen anzuvertrauen, ist daher für Mädchen auch deshalb schwer, weil sie befürchten, als lesbisch zu gelten und gemieden zu werden.

Sexueller Missbrauch durch die eigene Mutter ist die wohl schlimmste aller Missbrauchserfahrungen. Die Mutter ist der Mensch, dem ein Kind am allernächsten sein, am allermeisten vertrauen können sollte. Begreifen zu müssen, von der eigenen Mutter körperlich benutzt und seelisch missachtet zu werden, ist für Kinder und Jugendliche vernichtend.

Nicht einmal von ihr "wirklich" geliebt zu werden, erzeugt den allertiefsten Zweifel am eigenen Menschenwert sowie dem Recht auf Unantastbarkeit und Selbstbestimmung. Zweifel, die sich durch Bulimie, Magersucht, Depressionen, Selbstverstümmelungen, Ängste, Selbstmordversuche, Promiskuität, Drogen-, Medikamenten- oder Alkoholabhängigkeit mitteilen und ein Leben lang schwer belastende Auswirkungen auf die eigene Persönlichkeitsentwicklung haben.

Frauen als Kinder Missbrauchende und Gewalt Ausübende als mögliche Gefahrenquelle bewusst auszuklammern, bedeutet, Täterinnen durch Schweigen zu schützen und Kindesmissbrauch zu ermöglichen. Kein Frauenschutz kann so viel wert sein.

Karin Jäckel, Autorin und Journalistin, studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Sprecherziehung. Sie ist Verfasserin zahlreicher Erfahrungsromane, Sachbücher, historischer Romane sowie Kinder- und Jugendbücher. Ihre Themenschwerpunkte sind historische Biografien und Probleme der Gegenwart wie Gewalt und Missbrauch in Familien oder Kindesentziehung. Karin Jäckel ist verheiratet und hat drei Kinder.
Karin Jäckel
Karin Jäckel© Karin Yannic