Berg des Leides und Berg der Hoffnung

Von Martin Durm · 23.12.2010
In der Nacht vom 20. Januar 1992 zerschellte beim Landeanflug auf Straßburg ein Airbus A320 am Mont Sainte Odile, nicht weit vom gleichnamigen Kloster der Heiligen Odilie entfernt. Das Kloster wurde viele Male niedergebrannt, geplündert, verwüstet - und immer wieder aufgebaut. Es gehört zu den zentralen Pilgerstätten Europas, wo bis heute Gläubige Trost an dem Ort suchen, über den allzu oft Unglück und Leid hinweggingen.
Besonders schön ist er nicht. Was ihm fehlt, ist das zugespitzte Profil eines richtigen Berges, die steile Flanke, der dramatische Gipfel. Aber von 763 Höhenmetern kann man ja auch nichts Großes erwarten; eher etwas Stumpfes, Klobiges, das als Brocken in der Gegend herumliegt, am Westrand der Rheinebene, zwischen Weinbergen, Sauerkrautfeldern und elsässischen Dörfern. Dabei ist der Mont Sainte Odile unübersehbar, das muss man ihm lassen. Er kommt einem geradezu in die Quere, wenn man im Elsass unterwegs ist, beim Wandern, beim Radfahren oder beim Landeanflug auf Straßburg.

Und an den Berghängen Wald, dichter, alter Vogesenwald aus Buchen, Eichen, Kastanien und Fichten. Das Einzige, was den Baumkronenteppich durchbricht, ist der Kirchturm des Klosters und eine Statue: die Heilige Odilie. Mit ausgebreiteten Armen steht die Schutzpatronin des Elsass über dem Rheintal und scheint selbst den gegenüber liegenden Schwarzwald noch mit segnen zu wollen. Seit Jahrhunderten pilgern die Gläubigen zu ihr. Um zu büßen, zu beten, um geheilt zu werden von ihren Leiden:

Anderswo ziehen Nebelschwaden über die Berge; der Mont Sainte Odile ist in Weihrauch gehüllt. Dabei hat dieses Kloster eher etwas von einer Festungsanlage: meterdicke Mauern, ein gedrungener Kirchturm, ein Wohngebäude mit Schießschartenfenstern. "Hohenburg" – der mittelalterliche Name passt besser als der neuzeitliche "Kloster der Schwestern vom Heiligen Kreuz".

"Und Gott wird alle Tränen von ihren Augen wischen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Weinen, noch Schmerzen wird mehr sein. Denn das Alte ist vergangen."

Apokalypse Kapitel 21, Vers 4 – groß an die Wand gemalt, linker Hand in der Empfangshalle des Klosters. In diesem hohen, weiß gekalkten Gewölbe sind die biblischen Worte unübersehbar. Rechter Hand weisen Schilder zum Kreuzgang, zur Basilika, zur Grabeskapelle mit dem Heiligensarkophag.

Soeur Pascale – Schwester vom Heiligen Kreuz. Nur noch drei Schwestern des Ordens leben heute im Kloster. Früher waren es mehr als dreißig. Es geschehe oft, sagt Soeur Pascale, dass Leute die Nonnen um wundertätiges Quellwasser bitten:

"Sie glauben, das könne irgendwie helfen. Wie, weiß ich auch nicht. Das ist vielleicht etwas Greifbares, Materielles, etwas an das man sich halten kann in seiner Not. Eine Etappe sozusagen, die man gehen muss, um im Glauben zu wachsen. Es gibt Wunder, die im Inneren der Leute geschehen, die hierher kommen. Sie gehen anders von hier weg, als sie gekommen sind. Die Heilige Odilie wird im Elsass ja hoch verehrt. Die Pilger gehen zu ihr wie zu einer Mutter, der man sich anvertrauen will."

Eines Tages stieg Odilie den Berg hinauf. Da traf sie am Wegesrand auf einen Bettler. Der Bettler war blind und durstig und dem Tode nah. Die Heilige Odilie schlug mit einem Stock gegen den Felsen: Und Wasser sprudelte hervor. Klares Quellwasser. Odilie benetzte damit die Lider des Bettlers. Und mit einem Mal konnte er sehen. Die Quelle ist immer noch da. Eine tropfende Felsnische in den Wäldern, unterhalb des Klosters gelegen, wo Wasser aus einem Eisenrohr sickert.

Alvaro Randon: "Wenn ich zum Mont Sainte Odile gehe und unten am Fuß des Berges mein Auto auf einem der Parkplätze abstelle, finde ich nie den Weg nach oben. Nie. Ich verlaufe mich immer, jedes Mal. Es ist unglaublich. Es geschieht einfach so. Ich kann gar nicht anders als mich verirren. Ich glaube, das hat etwas mit diesem Verschwinden zu tun.

Rosanna, ich weiß ja nicht mal, wie sie da oben gestorben ist. Ich wollte es auch nie wissen. Ich sage mir einfach: Es ist schnell gegangen. Aber ich finde am Mont Sainte Odile nie meinen Weg. Ich hab's immer wieder alleine versucht. Und jedes Mal habe ich die Orientierung verloren. Jetzt nehme ich manchmal zwei, drei Leute mit. Die führen mich. So ist das.

Wissen Sie, alles, was mein Leben so erschüttert hat, finde ich am Mont Sainte Odile. Dieser Berg ist der einzige Ort, wo es für mich so etwas gibt wie ein Gedenken an meine Frau. Aber wir haben sie nicht dort oben beerdigt. Rosanna wurde eingeäschert, und die Urne ist jetzt im Haus ihrer Eltern. Ihre Eltern haben einen eigenen Raum eingerichtet, mit einer Art von Altar.

Da steht die Urne, und überall brennende Kerzen, Votivbilder, Gegenstände von ihr – aus einem Unfallopfer haben sie eine Märtyrerin gemacht, eine Heilige mit Reliquienschrein. Ich komme damit nicht zurecht. Ich verabscheue das. Sie war doch ein Mensch aus Fleisch und Blut."

Rosanna Randon – geboren 1958, aufgewachsen in Mexiko Stadt. Geschieden, zwei Kinder. Sie war Chemikerin. 1990 ging sie aus beruflichen Gründen mit ihren Söhnen nach Frankreich. In Straßburg leitete sie eine Forschungsabteilung des Kosmetikkonzerns L'Oréal. An der Universität traf sie den 12 Jahre älteren Alvaro Randon, ebenfalls Mexikaner. Randon lebte schon seit längerem in Straßburg, wo er als Biochemiker arbeitet. Die beiden heirateten 1991. Rosanna zog mit den beiden Kindern, Carlos und Alejandro, zehn und dreizehn Jahre alt, zu ihrem neuen Ehemann. Am 19. Januar 1992 flog Rosanna Randon mit einem Airbus A320 der Fluggesellschaft Air Inter von Straßburg nach Lyon zu einem Kongress. Am Abend darauf wollte sie wieder zurück sein.

Als der Airbus am 20. Januar 1992 beim Landeanflug auf Straßburg gegen den Mont Sainte Odile prallte, ausgerechnet da hatte Theo Freigard das erste Mal das Kloster besucht. Hatte das erste Mal die nächtliche Gebetswache gehalten, die Ewige Anbetung vor dem Hauptaltar in der Basilika. 80 Jahre alt ist Monsieur Freigard – aber das Gedächtnis, sagt er, das funktioniert noch:

17 Grad unter Null hatte es in dieser Nacht. Der ganze Berg lag im Nebel. Überall Eis und Schnee. Niemand hörte etwas, obwohl das Flugzeug nur ein paar hundert Meter vom Kloster entfernt am Boden zerschellte und in Flammen aufging. Keiner nahm etwas wahr. Erst als es in den Fernsehnachrichten kam:

Es war um Mitternacht, berichtet der Reporter vor Ort: Ein Kind, acht Jahre alt, hat den Flugzeugabsturz überlebt. Außerdem ein Mann, seine Frau und ihr 13 Monate altes Baby. Fast alle anderen Passagiere sind bei der Katastrophe am Mont Sainte Odile ums Leben gekommen. 87 Menschen.

Die Kamerateams waren als erste am Unglücksort. Es vergingen aber vier Stunden, bis Rettungsmannschaften, Feuerwehren und Ärzte eintrafen.

Die wenigen, die den Absturz überlebten, waren in diesen vier Stunden gefangen in brennenden Trümmern, Kälte und Dunkelheit. Rettungssanitäter berichteten später, der Anblick sei nur auszuhalten gewesen, wenn man sich auf den Kegel seiner Taschenlampe konzentrierte und ausblendete, was der Lichtstrahl für Bruchteile von Sekunden erfasste:

Später in der Nacht kam dann die Polizei noch ins Kloster, erinnert sich Theo Freigard, wollte wissen, ob jemand was gehört oder gesehen habe. Aber die Pilger hatten nichts gesehen oder gehört. Hinter den meterdicken Mauern der Basilika waren sie in die Ewige Anbetung versunken.

Alvaro Randon war am Abend zuvor zum Straßburger Flughafen gefahren, um seine Frau abzuholen. Er hatte Raclette besorgt, ihr Lieblingsgericht, die Kinder durften noch aufbleiben.

In der Ankunftshalle hieß es, die Maschine aus Lyon mit Weiterflug nach Paris habe Verspätung. Kurz darauf die Ansage: Passagiere nach Paris würden über Mulhouse umgeleitet, alle anderen erwarte man in einem separaten Raum des Flughafengebäudes. Dort erklärte der örtliche Direktor von Air Inter, der Airbus sei beim Landeanflug auf Straßburg vom Bildschirm verschwunden.

In dem Augenblick, sagt Alvaro Randon, und er weint, habe er gewusst, dass seine Frau nicht mehr zurückkomme. Er blieb die ganze Nacht über in der Flughafenhalle. Er verweigerte psychologische und pastorale Betreuung. Er stopfte stattdessen fünf Sandwiches und zehn Bier in sich hinein, um – wie er sagt – die Leere in sich mit irgendetwas zu füllen.

Dann, am frühen Morgen, zertrat er die Schaufensterscheibe einer Flughafenboutique, fuhr nach Hause und sagte den Kindern, ihre Mutter sei tot:

"Am Tag, an dem das alles geschah, lag ein Brief der Präfektur für meine Frau im Briefkasten. Wir warteten damals auf ihre Einbürgerung. Sie hatte die französische Staatsbürgerschaft beantragt. Das war endlich genehmigt worden. In dem Brief stand, meine Frau könne ihre Papiere bei der Präfektur abholen. Ich hatte den Brief mit zum Flughafen genommen. Ich wollte sie abholen und sagen: Du bist jetzt Französin."

Es ist Abend geworden, die meisten Pilger haben sich zurück gezogen in ihre Zimmer, ins zweite Obergeschoss, um ein paar Stunden zu schlafen und Kräfte für das nächtliche Ritual der Ewigen Anbetung zu sammeln. Die Flure sind leer, die Türen geschlossen, durch die Ritzen ziehen weit entfernte, fromme Gesänge. Klein sind die Zimmer, wie sich's für ein Kloster gehört, klein aber sauber. Und überheizt. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Ein Kruzifix an der Wand. Die Heilige Katharina, die Heilige Ursula, der von Pfeilen durchbohrte Heilige Stephanus. So lange es einen nicht trifft, so lange nichts wirklich schmerzt, kein Alter, keine Krankheit, kein Schicksalsschlag, lassen sich diese katholischen Gerüche, Geräusche, Gebete ganz gut verdrängen. Aber irgendwann wird es ernst. Irgendwann kommt diese Stille, gegen die man nicht angehen kann.

Das hier sei wirklich ein besonderer Ort. Ein Ort, wo man spüre, dass hier etwas außergewöhnliches geschehe. Sagt das Ehepaar Lindecker, Pierre und Brigitte Lindecker, die nun schon zum dritten Mal zusammen für eine Woche zur Ewigen Anbetung kommen:

"Das ist einfach ein Ort, wo einem etwas geschieht. Der Mont Sainte Odile hat mich schon als Kind angezogen, wenn ich die bebilderten Heftchen über die Heilige Odilie gelesen habe. Sie ist ja auch die Schutzpatronin des Elsaß. Wenn wir unten in der Ebene sind und hoch schauen, dann sehen wir sie – ihre geöffneten Arme auf dem Berg – wenn wir spät abends noch unterwegs sind, dann können wir manchmal ganz oben die Lichter des Klosters erkennen – und dann sagen wir zueinander: schau – da ist der Mont Sainte Odile."

Sie führen eine lange, eine glückliche – sagen wir: eine gesegnete Ehe. Das spürt man. Seit 30 Jahre verheiratet, selbstständig, wohlhabend. Das Leben war gut zu ihnen. Sie haben zwei gesunde, erfolgreiche Kinder.

Alvaro Randon: "Sie ist immer da. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an meine Frau denke. Aber manchmal, manchmal weiß ich nicht mal mehr, wie sie ausgesehen hat. Dann kann ich sie einfach nicht mehr erkennen. Nicht mehr finden. Es klingt schrecklich, wenn ich das sage: Aber manchmal frage ich mich, ob Rosanna überhaupt existiert hat. Zwei Jahr, so kurz war die Zeit, die wir zusammen hatten."

Seit 1931 geht das so, in einem fort, die einen kommen, knien nieder, die anderen stehen auf und machen Platz. Selbst während des Zweiten Weltkrieges wurde die Gebetskette nicht unterbrochen.

Es wurde durchgebetet, als die Deutschen 1940 das Elsaß besetzten. Es wurde durchgebetet, als keine 20 Kilometer vom Kloster entfernt, im Konzentrationslager Struthof, 22.000 Menschen umgebracht wurden. Es wurde durchgebetet, als die Alliierten 1945 Frankreich befreiten und Straßburg und vorstießen über den Rhein.

Als 1992 in der Nähe des Klosters der Airbus einschlug, wurde auch durchgebetet.

Alvaro Randon: "Ich habe meinen Glauben eigentlich erst nach dem Unglück entwickelt. Erst da hat sich mein Glaube vertieft. Früher bin ich einfach katholisch gewesen. Ich habe den Katholizismus sozusagen konsumiert. Jetzt praktiziere ich ihn. Ich glaube, das war mein Schicksal. Ach was, was heißt Schicksal. Das war einfach mein Weg. Was geschehen ist, hat mein Leben so erschüttert, so sehr verändert. Und nun verschwindet die Erinnerung an meine Frau immer mehr im Dunkeln."

Der Verlust, vor 18 Jahren erlitten, ist Gegenwart. Und der Schmerz. Der Schmerz verändert sich zwar mit der Zeit, aber er nährt sich an der verzweifelten Hoffnung, eines Tages vielleicht doch noch eine Erklärung für etwas zu finden, das nie geklärt werden kann. Die 87 Toten vom Mont Sainte Odile lassen über 300 Hinterbliebene zurück: Warum sie? Warum hat es sie getroffen, warum wurde ausgerechnet ihr Leben innerhalb weniger Augenblicke zerschlagen: In den heilen Teil, der davor war – und die zerbrochenen Teile danach.

Und wieder ist Schichtwechsel am Kloster Mont Sainte Odile. Neue Pilger ziehen mit Rollkoffern zur Adoration perpetuelle. Die Alten reisen ab und sammeln sich in Gruppen vor den wartenden Bussen; so viele in die Jahre gekommene Leute, die für sich und ihre Verwandtschaft gleich literweise wundertätiges Quellwasser abgezapft haben.