Belebte Dinge

Rezensiert von Uwe Stolzmann · 26.05.2006
Sehr seltsame und skurille Geschichten erzählt der uruguayische Schriftsteller Felisberto Hernández in dem Band "Die Frau, die mir gleicht". Da liebt eine Frau einen Balkon, eine Zigarette weigert sich geraucht zu werden und ein Mann wirbt um eine Frau nur wegen ihrer Stühle. Der 1964 verstorbene Hernández blieb stets eine Randfigur der Literaturgeschichte, viele namhafte Autoren wie Marquez oder Borges nennen ihn aber als Inspirationsquelle.
Was für seltsame Geschichten: Eine Frau liebt einen bunt verglasten Balkon, doch die Lovestory hat schlimme Folgen - der Wintergarten stürzt sich, wohl aus Eifersucht, in die Tiefe. Eine Zigarette weigert sich, geraucht zu werden, drei Seiten lang, dann ist der Text vorbei. Zwei Fensterflügel, halb geöffnet, blicken starr einander an; werden sie unnötig bewegt, reagieren sie mit Hass.

Ein Mann, der Ich-Erzähler, besucht ein Mädchen namens Irene; immer wieder besucht er sie in ihrem alten Haus, er wirbt um sie, die beiden werden ein Paar, doch mehr als das Mädchen interessieren den Erzähler die Stühle im Haus: Wesen von eigenwilligem Charakter, sie schauen den Besucher verstohlen an, sie zeigen sich mal unnahbar, mal unterwürfig, und manchmal lachen sie ihn aus.

Selbst zufällige Erscheinungen agieren mit Kraft und Verstand, so zum Beispiel die sonderbare Stille in einem Konzertsaal:

"Das Schweigen hörte gern Musik; es hörte bis zum letzten Nachhall zu und dachte dann nach über das, was es gehört hatte."

Tote Dinge führen ein irritierend munteres Leben. Die menschlichen Protagonisten dieser mal knappen, mal längeren Erzählungen sieht man hingegen an den Rand gedrängt - das blasse Frauenzimmer, den weltabgewandten Alten, vor allem die "Ich"-Figur mancher Geschichte, immer melancholisch, fast immer nervös, gestresst. In etlichen Texten tingelt das "Ich" als Klavierspieler durch die Pampa, und spätestens mit diesem Fingerzeig wird offenbar: Der Erzähler ist ein Alter Ego des Verfassers.

Felisberto Hernández, 1902 bis 1964: In einer abgelegenen Hauptstadt kam er zur Welt, in Montevideo, und dort starb er auch. Für kurze Zeit hatte es ihn nach Paris verschlagen, doch was ihn prägte, war die Ödnis der uruguayischen Provinz. Er lebte in Nischen, ein Außenseiter, Eigenbrötler, stets in Geldnot. Als Pianist gab er ein, zwei gut besprochene Konzerte, sonst spielte er in Stummfilmkinos oder vor den Honoratioren verstaubter Landstädtchen. Er scheiterte als Buchhändler und in vier Ehen; immer wieder floh er zur Mutter.

Staunend stand Hernández einer unbegreifbaren Realität gegenüber, dem Alltag mit seinen Fallstricken, und dieses Staunen trug er in seine Texte. Das literarische Werk blieb schmal, erst spät wurde es bekannt.

Doch die verstörende Prosa inspirierte andere Autoren. Onetti verehrte den Landsmann, Borges empfahl ihn einer Zeitschrift. García Márquez bekannte, er wäre ohne die Lektüre nicht der Schriftsteller, der er sei. Und Cortázar notierte 1975:

"Was wir an Felisberto lieben, ist die Schlichtheit."

Trotzdem, so der Argentinier, habe jede Geschichte die Kraft, den Leser in ein vergangenes Uruguay zu versetzen.

"Darf man mehr verlangen von einem Erzähler, der fähig ist, das Alltägliche so mit dem Außergewöhnlichen zu verbinden, dass sie dasselbe sein könnten?"

Hernández hat sein Werk einmal mit einer Pflanze verglichen, einem Gewächs in einem Winkel seiner selbst, von dem er nicht wisse, wie er ihr Wachstum begünstigen oder behüten solle.

"...Ich ahne oder wünsche mir nur, sie möge poetische Blätter tragen; oder etwas, das sich in Poesie verwandelt, wenn bestimmte Augen sie betrachten. Ich muss darauf achten, dass sie nicht zuviel Raum einnimmt, nicht schön oder tiefgründig sein will, sondern dass sie die Pflanze wird, zu der sie selbst bestimmt ist..."

Der vorliegende Sammelband des Suhrkamp-Verlags versteht sich als Einladung: an den Schreibtisch eines Prosakünstlers ohne Vorbilder und Epigonen. Ein Teil der Übersetzungen wurde bereits 1985 publiziert, die meisten Texte erscheinen erstmals auf Deutsch. In einigen Fällen konnten die Originalmanuskripte konsultiert werden, vergilbte Blätter mit Notizen in Blockschrift.

Manche Leser mag die Lektüre befremden; Hernández hat deshalb vorgeschlagen, die Lesearbeit hin und wieder zu unterbrechen, zum Nachdenken. Und diese Gedanken, meinte der Dichter verschmitzt, die würden das Beste am Buch sein.


Felisberto Hernández: Die Frau, die mir gleicht
Erzählungen. Aus dem Spanischen von Angelika Ammar, Annelise Botond und Sabine Giersberg. Mit einem Nachwort von Angelika Ammar.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2006,
398 S., 24,80 Euro.