Belagerung entlang der Ruhr

Von Wolfgang Stenke · 11.01.2008
Am 11. Januar 1923 ließen französische und belgische Regierung ihre Truppen ins Ruhrgebiet marschieren, um von der Regierung der Weimarer Republik Reparationsleistungen für Schäden aus dem Ersten Weltkrieg zu erzwingen. Für die franko-belgische Besatzung war das ein völkerrechtlich legitimer Akt, dessen Berechtigung sich aus dem Versailler Vertrag ergab, für die Deutschen die denkbar schwerste Verletzung ihrer Hoheitsrechte
"Am 11. Januar drangen französische und belgische Truppen in zwei Hauptkolonnen in freies deutsches Gebiet ein (...). Die Truppen waren kriegsmäßig ausgerüstet (...). An der Spitze marschierten Kavallerieabteilungen mit gezogenem Säbel (...). Auf dem Marktplatz in Essen fuhren Panzerwagen auf, Maschinengewehre wurden in Stellung gebracht, der Belagerungszustand verhängt."

Nach jedem Satz dieser Rede von Reichskanzler Wilhelm Cuno verzeichnete der Parlamentsstenograf "erregte Zurufe", "Pfui-Rufe" und entrüstetes "Hört! Hört!" aus dem Plenum. Anlass der Empörung, die ganz Deutschland ergriffen hatte, war die Besetzung des Ruhrgebiets durch fünf französische und eine belgische Division - wenig mehr als vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Im Vertrag von Versailles hatte die Weimarer Republik als Nachfolgerin des Kaiserreiches harte Friedensbedingungen akzeptieren müssen: 132 Milliarden Mark an Reparationen für Kriegsschäden, vor allem in Nordfrankreich und Belgien - eine damals kaum vorstellbare Summe -, dazu Gebietsverluste und die Forderung, Deutschland solle die Alleinschuld am Weltkrieg eingestehen. Die Deutschen empfanden sich deshalb als Parias des internationalen Staatensystems, dem Diktat der Sieger machtlos ausgeliefert.

Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann 1919 in der Weimarer Nationalversammlung:

"Was soll ein Volk machen, das bei der Festsetzung seiner Verpflichtungen nicht mitreden darf, sondern dem man willig Gelegenheit gibt sich zu äußern, ohne dass es an den Entscheidungen beteiligt würde?"

Vier Jahre nach Vertragsunterzeichnung taktierte Reichskanzler Wilhelm Cuno in der Reparationsfrage hinhaltend: "Erst Brot, dann Reparationen!" Gemäß dieser Devise war das Reich nicht ganz ohne Absicht mit den Leistungen an Frankreich und Belgien in Verzug geraten. Es fehlten Kohle- und Holzlieferungen – unter anderem die legendär gewordenen 100.000 Telegrafenstangen. Ein glatter Verstoß gegen den Versailler Vertrag. Franzosen und Belgier brauchten dieses Material zum Wiederaufbau. Da der Krieg größtenteils außerhalb der Reichsgrenzen stattgefunden hatte, war der deutschen Zivilbevölkerung das Ausmaß der Zerstörungen in Frankreich und Belgien nicht bewusst.

Der Düsseldorfer Historiker Gerd Krumeich, Experte für die Geschichte des Ersten Weltkriegs:

"Die Deutschen hatten diesen Krieg nicht mitbekommen - außer über die Propaganda und die Todesziffern und über das individuelle Leid. (...) Und von daher ist eine riesige Diskrepanz zwischen dem, was vom Ausland her vorgeworfen wird, was die Deutschen angerichtet haben an Kriegsverbrechen und dem, was die Deutschen zu akzeptieren, ich würde mal sagen, damals bereit sein konnten. Sie konnten das nicht einsehen und sie sehen es kollektiv nicht ein - von links bis rechts."

Der französische Premier Raymond Poincaré verfolgte in der Reparationsfrage die "Politik der produktiven Pfänder". Mit der Besetzung des Ruhrgebietes am 11. Januar 1923 sollte Deutschland gezwungen werden, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Doch die Regierung Cuno rief den passiven Widerstand aus: Die Arbeiter streikten, Fördertürme und Kohlewaggons standen still, es kam zu Sabotageakten. Die Franzosen schafften daraufhin eigenes Personal heran, schossen auf renitente Arbeiter und wiesen widerspenstige Beamte aus. Die Unterstützung des Widerstandes kam die Reichskasse teuer zu stehen: Schon im Juni 1923 war die kurzfristige Verschuldung auf 22 Billionen Mark gestiegen. Die Belastungen wurden mit der Notenpresse finanziert, die Inflation galoppierte.

Im August 1923 resignierte die Regierung Cuno, der Widerstand war nicht länger durchzuhalten. Eine Große Koalition aus SPD, Zentrum und Liberalen sollte den nationalen Notstand bewältigen. Kanzler und Außenminister wurde Gustav Stresemann. Sein Sohn Wolfgang, damals 19, erinnert sich:

"Mein Vater hat natürlich alles versucht, um die Kapitulation zu vermeiden, aber Poincaré wusste, dass er gesiegt hatte, dass der Widerstand nicht mehr richtig durchgeführt wurde (...) Und so blieb ihm gar nichts anderes übrig, als zu kapitulieren."

Stresemann, der "Vernunftrepublikaner", setzte auf die Verständigung mit Frankreich. Das machte ihn zur Zielscheibe hasserfüllter Angriffe aus den Reihen der nationalistischen Rechten. Stresemann erwiderte kühl:

"Der Mut, die Aufgabe des passiven Widerstandes verantwortlich auf sich zu nehmen, ist vielleicht mehr national als die Phrasen, mit denen dagegen angekämpft wurde."

Die Beendigung des Ruhrkampfes war eine der ersten Voraussetzungen zur Stabilisierung der Weimarer Republik und ihrer Wirtschaft.