Begründungen einer Piratenwählerschaft

Von Florian Felix Weyh · 24.04.2012
Steckbrief: Parteilos, männlich, gebildet, technikaffin und Internetaktivist der ersten Stunde - das bin ich. Man könnte noch ein paar Attribute hinzufügen und käme unweigerlich zum Schluss: "Der Mann verkörpert den Piratenwähler."
Weil das tatsächlich viele in meinem Umfeld glauben, habe ich mir die Mühe gemacht, mich in diese Zuschreibung hineinzuversetzen. Ich sei also ein Piratenwähler - warum?

A) Auf eine Partei, die mit π anfängt, habe ich schon immer gewartet. Ihre genaue Gestalt kann der Computer ausrechnen.

B) Leute, die später Jura studierten, waren meine ekelhaftesten Mitschüler und haben mich immer gepiesackt. Alle Altparteien sind im Würgegriff der Juristen.

C) Ebenso bevölkern Lehrer das Parlament, vornehmlich bei der SPD-Fraktion. Das sind jene Menschen, die bis heute ihre E-Mails ausdrucken.

D) Grüne? Wenn die wüssten, was beim Löten alles verdampft, wäre "Platine" das Unwort des Jahrhunderts.

E) Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung; über die geistigen Schaltpläne von VEB Robotron ist die Linke bis heute nicht hinausgekommen.

F) Am 10.2.1970 bewies Kurt Gödel Gott. Damit hat die Mathematik christliche Parteien überflüssig und den Weg zur Algorithmenherrschaft freigemacht.

Zugegeben, diese sehr spezifischen Begründungen erklären nur 0,1 Prozent der Piratenwählerschaft. Eine Fünfprozenthürde überspringt man erst mit breiterer Thematik:

A) Wir sind jung, und ihr seid alt! Wir sind hip, und ihr tragt Anzüge. Wir haben 30 Passworte und schreiben keines auf, ihr habt ein Passwort und tragt es auf 30 Zetteln mit euch herum.

B) Ihr drescht Phrasen, wir reden Klartext.

C) Alles Gute ist flüssig: Benzin, Alkohol und Gedanken. Warum nicht auch die Demokratie?

D) Download ist ein Menschenrecht. Download ist ein Menschenrecht!

Damit war der Einzug in die Landesparlamente gesichert, auch wenn etliche Altpiraten jugendlicher tun, als das ihr Geburtsdatum nahelegt. In Umfragen geht das Potenzial ohnehin weit über die Jungwähler hinaus. Es müssen also noch ein paar Motive hinzukommen.

A) Das parlamentarische System erzeugt Berufspolitiker, deren Gesichter man jahrzehntelang ertragen muss. Ich will Abwechslung! ("Westerwelle-Faktor").

B) Amateure haben Charme, Profis sind arrogant. ("Bayern-München-Faktor")

C) Guck mal, die sind fürs bedingungslose Grundeinkommen! Das nehm ich doch mit! ("Begrüßungsgeldfaktor")

D) Jedem Urheberrechtsverstöße monierenden Abmahnbrief in Deutschland liegt ein Aufnahmeantrag für die Piraten bei. ("Eigentorfaktor")

E) Ich bin enttäuscht. Ich bin so enttäuscht. Ich bin so maßlos enttäuscht! ("Loser-Win-Faktor" nichtetablierter Parteien)

Ach, das ist ja alles nur Hohn und Spott, was meinem Kopf entfleucht! Doch gibt es auch politische Gründe, diesen lustigen Haufen in Schlips tragende Parlamentarier zu verwandeln? Jetzt mal ganz im Ernst!

Ja - genau einen. Es ist das Unbehagen, dass keine der etablierten politischen Kräfte auch nur annähernd begreifen will, wie viel sich in den gesellschaftlichen Strukturen durch die Digitalisierung ändern wird. Dass wir ein Parlament aus Postkutschenfahrern haben, während draußen die Eisenbahn vorbeirattert, ist eine Tragödie.

Darin fällt den Piraten freilich kaum die Heldenrolle zu; sie werden nach dem Prolog von der Bühne abtreten. Warum? Der Held braucht nicht nur einen Willen, er braucht vor allen Dingen Format. Man zeige mir einen aus der bunten Crew, der den Kopf hat, die Materie geistig zu durchdringen. Solange man damit beschäftigt ist, die Intellektuellen durch enteignende Freiheitsparolen zu vergraulen, werden richtig gestellte Fragen keine Antworten finden. Nicht bei dieser Vereinigung.

Florian Felix Weyh, Schriftsteller, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für das Deutschlandradio.

Sein Buch "Toggle" (2011) ist im Galiani Verlag erschienen. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller und freier Journalist in Berlin
Florian Felix Weyh© Katharina Meinel
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