BDI: Scheitern von ACTA kostet deutsche Wirtschaft Milliarden

Moderation: Dieter Kassel · 04.07.2012
Sollte das Internationale Handelsabkommen ACTA wie erwartet heute im Europäischen Parlament durchfallen, hätte das erhebliche Nachteile für die deutsche Wirtschaft, befürchtet der Jurist Heiko Willems vom Bundesverband der Deutschen Industrie. Durchsetzbar wäre vielleicht ein reduziertes Abkommen zum "unstrittigen Teil zur Produktpiraterie", so Willems weiter.
Dieter Kassel: Seit Monaten protestieren Menschen in vielen Ländern Europas, vor allem aber auch in Deutschland, gegen ACTA: virtuell, also im Internet, per Petition, aber auch leibhaftig auf der Straße. ACTA, das steht für Anti-Counterfeiting Trade Agreement, ein internationales Handelsabkommen, das der Bekämpfung von Produktpiraterie und der Stärkung von Urheberrechten in der realen Welt und im Internet dienen sollte. Vor allem Letzteres hat viele Menschen aufgebracht, und es waren wohl vor allem auch die heftigen Proteste, die dazu geführt haben, dass das Europäische Parlament heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegen das Abkommen stimmen wird, und das wäre dann auch das Ende von ACTA.

Was sagt dazu ein Verband, der sich immer vehement für ACTA eingesetzt hat, zum Beispiel der Bundesverband der Deutschen Industrie? Darüber wollen wir jetzt mit Heiko Willems sprechen, dem Leiter der Rechtsabteilung des BDI. Schönen guten Morgen, Herr Willems!

Heiko Willems: Guten Morgen, Herr Kassel!

Kassel: Würden Sie denn dieser Formulierung jetzt überhaupt zustimmen, wenn ich behaupte, die Gegner haben ab heute gewonnen?

Willems: Na ja, die Gegner haben sich ja offenbar im Europäischen Parlament durchgesetzt, die Stimmung, in allen Ausschüssen war das Votum ja klar, und auch im Plenum gehen wir davon aus, dass das Abkommen scheitern wird. Wir bedauern das sehr, denn die Vorwürfe, die gegen ACTA erhoben wurden, halten wir zum großen Teil für unbegründet. Und insofern sehen wir eigentlich keinen Grund, warum man dieses Abkommen ablehnen müsste beziehungsweise wieso das Parlament nicht das Gutachten des EUGH abwartet. Aber in der Tat ist eben die Stimmung eindeutig so, dass die Gegner hier Oberwasser haben.

Kassel: Das ist ja interessant, worauf Sie gerade gekommen sind, ist halt ein Gutachten des Europäischen Gerichtshofes, das noch nicht vorliegt, das aber gemacht wird, und in dem geklärt werden soll, ob das, was in ACTA steht, in Übereinstimmung ist mit den europäischen Gesetzen. Das ist doch sehr merkwürdig, dass jemand ein Gutachten in Auftrag gibt zur Klärung, und dann fällt er aber einen endgültigen Entschluss, bevor das Gutachten da ist?

Willems: Ja, das ist in der Tat merkwürdig, wobei das Gutachten ja von der Kommission beantragt wurde, die ja ein Interesse am Zustandekommen von ACTA hat, sie hat das Abkommen ja auch verhandelt. Und das Parlament möchte jetzt eben dieses Verfahren nicht mehr abwarten, weil man sagt, man will das Abkommen politisch nicht. Wir bedauern und kritisieren das auch, also schon der Respekt vor dem OEGH würde es eigentlich gebieten, dass man sich damit gründlich auseinandersetzt.

Und ich glaube auch, dann würde sich zeigen, dass eine Menge der Sorgen unbegründet sind, dass nämlich ACTA keineswegs Grundrechte in Europa verletzt und dass damit auch keine Verschärfung des europäischen Rechtsstandards einhergeht. Es gab auch mal ein Gutachten innerhalb des europäischen Parlaments, was das bestätigt hat, dass ACTA also nicht über bestehendes Recht in Europa hinausgeht, aber auch das hat die Kritiker offenbar nicht überzeugen können.

Kassel: Nun haben aber bereits fünf Ausschüsse des Europäischen Parlaments sich auch schon gegen ACTA ausgesprochen, unter anderem auch der Handelsausschuss. Denen darf man doch vermutlich einen gewissen Sachverstand unterstellen?

Willems: Ja, selbstverständlich, ich will ja auch nicht sagen, dass sämtliche Vorwürfe völlig grundlos erhoben werden, beziehungsweise dass vor allen Dingen auch in der Kommunikation alles optimal gelaufen sei. Man hätte sicherlich sehr viel früher seitens der Kommission, seitens der beteiligten Regierungen über die Inhalte von ACTA aufklären müssen – was steht drin, was steht nicht drin? Es werden immer wieder Sorgen geäußert, die unklaren Begriffe in einem völkerrechtlichen Abkommen, die könnten ja auch zu einer Verschärfung führen.

Natürlich ist ACTA an einigen Stellen schwammig, aber das ist nun mal der Charakter eines völkerrechtlichen Vertrags. Da kommen verschiedene Rechtsordnungen zusammen, die bilden ihre verschiedenen Standards ab, das heißt, da wird ein Rahmen abgesteckt, in dem man sich bewegt, aber die EU war durch ACTA nicht verpflichtet, diesen bestehenden Rahmen zu verschärfen, und insofern wäre auch eine andere Entscheidung sicherlich tragbar gewesen.

Kassel: Da kann man ja sozusagen behaupten, Gegner und Befürworter sind nicht so weit weg auseinander. Sie sagen, die EU wäre nicht verpflichtet gewesen, rechtliche Bestimmungen zu verschärfen, und die Gegner sagen, nein, nein, aber wenn es erst mal einen solchen Text in einem Abkommen gibt, dann ist natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass einer das zum Anlass nimmt, rechtliche Bestimmungen zu verschärfen, durchaus da.

Heute Morgen hat bei den Kollegen vom Deutschlandfunk der CDU-Europaabgeordnete Daniel Caspary das auch weitestgehend bestätigt und gesagt, ja, ja, diese Formulierung, man muss nicht, aber sie sind natürlich nicht ganz eindeutig. Sie sind ja selber Jurist, Herr Willems, ist denn das normal, dass in so einem internationalen Abkommen Formulierungen stecken, die man – ja, ich übertreibe jetzt – interpretieren kann, wie man gerade will?

Willems: Nicht wie man gerade will, man ist natürlich schon an den Standard des Abkommens gebunden, aber man hat in diesem Rahmen natürlich eine gewisse Flexibilität, wie man es umsetzen will.

Und schauen Sie sich die Rechtslage in Europa heute an. Auch da ist der Rahmen ja flexibel, also gewisse Auskunftsansprüche gegen Provider oder Überwachungs-, sagen wir mal, Sorgfaltspflichten von Handelsplattformen, die gibt es heute, das ist eigentlich weitgehend anerkannt, aber in Frankreich haben wir beispielsweise sogar Netzsperren. Das ist auch ein Punkt, der fällt immer ganz gerne herunter, aber wir haben durchaus einen Spielraum auch schon nach bestehendem Recht, wie weit einzelne Staaten gehen.

In Deutschland wären Netzsperren nicht durchsetzbar, auch nicht richtig, halten wir auch nicht für richtig, aber wir müssen respektieren, dass andere Staaten nun mal diese Mittel haben, und das liegt in der Natur von internationalen Abkommen. Und ACTA hätte ja nicht die Zielrichtung gehabt, in Europa etwas zu ändern. Ich glaube, da besteht ziemlicher Konsens zwischen den interessierten Gruppen und zwischen den Regierungen auch, dass unser Standard eigentlich gut ist. ACTA wäre aber ein Schritt gewesen, den europäischen Standard zu internationalisieren, um weitere Länder an den Schutz geistigen Eigentums besser heranzuführen.

Kassel: Wir reden heute Vormittag hier im Deutschlandradio Kultur mit Heiko Willems, er ist der Leiter der Rechtsabteilung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, und es ist ja klar geworden, Herr Willems, dass Ihr Verband immer noch ein Befürworter von ACTA ist, und da wir nun trotzdem davon ausgehen, in wenigen Stunden wird ACTA erst mal Geschichte sein, welche Nachteile bedeutet denn das konkret aus Ihrer Sicht für die deutsche Industrie, wenn dieses Abkommen scheitert?

Willems: Also es hat vor allen Dingen internationale Nachteile. Wie gesagt, der europäische Rechtsrahmen ändert sich nicht, das heißt, wir haben gewisse Schutzstandards gegen Rechtsverstöße, gegen Piraterieware, aber wenn man sich mal die weltweite Dimension anschaut, also EU und OECD gehen von einem Schaden durch Piraterie in Höhe von 250 Milliarden US-Dollar im Jahr aus, das ist mehr als das Bruttoinlandsprodukt der meisten Länder dieser Welt. Das ist also kein Kavaliersdelikt, sondern das ist richtig organisierte Kriminalität.

Die EU hat allein einen fiskalischen Schaden durch entgangene Zölle und Steuern in Höhe von acht Milliarden Euro jedes Jahr, der deutsche Maschinenbau in aller Welt sieben Milliarden Euro im Jahr an Schaden.

Diese Schäden muss man auch international versuchen einzudämmen, das wird nie ganz gelingen, aber den Rechtsrahmen dafür zu schaffen, dass eben auch ein international hoher Standard für den Schutz geistigen Eigentums gewährleistet ist, das wäre schon ein wichtiges Anliegen, und da wäre ACTA ein wichtiger erster Schritt gewesen.

Kassel: Das bedeutet, die Menschen, die sich auch in der Politik, auch in Deutschland, gegen ACTA ausgesprochen haben, die haben im Grunde genommen unverantwortlich gehandelt?

Willems: Sie müssen sich zumindest die Frage stellen lassen, was sie für den Schutz geistigen Eigentums tun und welche Bedeutung sie dem beimessen. Denn da sind ja auch Arbeitsplätze betroffen, insbesondere in innovativen Unternehmen, und dieser Aspekt ist in der Diskussion, glaube ich, insgesamt etwas zu kurz gekommen. Im Vordergrund standen Internetthemen, die auch wichtig sind, die eine Rolle spielen, eine große Rolle spielen, aber der gesamte volkswirtschaftliche Schaden, der hätte, glaube ich, noch etwas stärker Gehör finden müssen.

Kassel: Was kann man denn als BDI jetzt daraus lernen, wie das gelaufen ist? Müssen Sie in Zukunft auch mit Youtube-Videos im Internet kämpfen?

Willems: Also ich glaube, man muss insgesamt zunächst mal stärker in der Gesellschaft für eine Akzeptanz des geistigen Eigentums werben. Man muss hier auch klarmachen, da ist jetzt von ACTA oder von anderen Schutzmaßnahmen ist ja nicht die Privatkopie erfasst, aber eben die gewerbliche Piraterie eben auch im Internet. Und man muss klarmachen, wie sind die Regeln, wieso sind die Regeln so, wieso brauchen wir Schutz geistigen Eigentums, das hat ja einen guten Grund. Und über etwaige Rechtsänderungen oder internationale Abkommen muss man dann eben auch frühzeitig und transparent informieren, das ist, glaube ich, diesmal nicht so gelungen.

Kassel: ACTA scheitert, davon gehen wir jetzt mal aus, wenn es kein Wunder gibt heute Nachmittag im Europäischen Parlament, und das auch so ist, wie geht es dann weiter? Wie muss es weitergehen aus Ihrer Sicht?

Willems: Das ist eine schwierige Frage. Also es gibt ja die Möglichkeit, das hat ja die Kommission mal erwogen, dass man zunächst nun doch das EUGH-Gutachten abwartet und dann ACTA doch noch einmal dem Europäischen Parlament zur Abstimmung vorlegt. Das kann man versuchen – halte ich persönlich für fraglich, ob so etwas Erfolg hat, denn wie gesagt, wenn das Europäische Parlament das wollte, hätte es auch jetzt die Abstimmung aussetzen können.

Die zweite Möglichkeit ist ein reduziertes Abkommen, also Konzentration auf den unstrittigen Teil zur Produktpiraterie, das wäre aus unserer Sicht ein sinnvoller weg, das ist ja auch für die Industrie das Kernanliegen. Man klammert die Urheberrechtsdebatte zunächst mal aus und konzentriert sich auf den Warenverkehr. Aber das ist auch kein Selbstläufer, denn das bedeutet international ja einen Neustart. Man muss sich ja mit den anderen Verhandlungspartnern dann auch wieder erst mal an den Tisch setzen.

Und der dritte Weg, den Kommission und Parlament beschreiten sollten, ist natürlich, wen man kein internationales Abkommen erreicht, dann wenigstens in den bilateralen Handelsabkommen den Schutz geistigen Eigentums sicherzustellen. Die EU verhandelt einige bilaterale Abkommen, und dann muss man eben dafür Sorge tragen, dass dort auch Dinge wie Grenzkontrollen und Beschlagnahmemaßnahmen bei Piraterie-Ware eben auch Eingang finden in solche Abkommen.

Kassel: Heiko Willems, der Leiter der Abteilung Recht und Versicherung des Bundesverbandes der deutschen Industrie zum voraussichtlichen, relativ sicheren Scheitern von ACTA heute im Europäischen Parlament. Herr Willems, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Willems: Vielen Dank, Herr Kassel!


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Das Handelsabkommen ACTA vor dem Scheitern (DLF)


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