Aus Jugendprotesten in England und Spanien lernen

15.08.2011
Die grüne Europa-Abgeordnete Elisabeth Schroedter fordert, im Jugend- und Bildungsbereich nicht weiter zu sparen. Den Jugendlichen solle vielmehr eine Perspektive aufgezeigt werden, fordert sie angesichts der Proteste durch Europas Jugend.
Jörg Degenhardt: Wenn Polizisten Angst um ihr Leben haben müssen, dann ist die Lage ernst. Letzte Woche bei den Krawallen im Vereinigten Königreich gab es solche Situationen gleich mehrfach. Mittlerweile hat sich die Lage in London beruhigt. Dazu beigetragen hat, dass die Polizei jetzt gewissermaßen in Armeestärke in den problematischen Vierteln für Ruhe und Ordnung sorgt. Eine Dauerlösung kann das natürlich nicht sein. Woher rührt die Wut der Straße? Wie lassen sich Jugendbanden bekämpfen? Und was hat der Frust junger Leute vielleicht damit zu tun, dass sie Arbeit und eine Perspektive suchen, aber nichts finden? Elisabeth Schroedter sitzt für die Grünen im Europaparlament, sie ist stellvertretende Vorsitzende im Ausschuss Beschäftigung und soziale Angelegenheiten. Guten Morgen Frau Schroedter!

Elisabeth Schroedter: Guten Morgen!

Degenhardt: Brandschatzende und plündernde Jugendbanden mitten in Europa? Die Politik in London hat mit harter Hand reagiert; über 2.000 Festnahmen zum Beispiel. Ist das die richtige Antwort auf die Gewalt der letzten Woche?

Schroedter: Es ist möglicherweise jetzt ein Versuch, Ruhe hineinzubekommen in ein Problem, was seit Langem sich aufgebaut hat. Die Ungleichheit hat in den letzten Jahren in Großbritannien extrem zugenommen. Schon seit Thatcher eigentlich. Da sind die sozialen Gegensätze so stark ausgewachsen, dass das unvergleichlich ist gegenüber einem anderen Land in der Europäischen Union, und das hat in den letzten Jahren zwar im Wachstum nicht mehr so stark zugenommen. Aber sie sind nach wie vor auseinandergegangen, und die Krise hat natürlich ihren Beitrag nach wie vor dazu getragen. Und in Großbritannien ist es so, dass die Jugendlichen wenig Chancen haben, wenn sie einmal einer bestimmten Schicht in der Gesellschaft angehören. Und für sie ist die Krise ganz besonders stark, und für sie ist es so, dass die Chance, sich selbst aus dem herauszuarbeiten – aus ihrer sozialen Schicht herauszuarbeiten –, ist besonders gering. Und das hat schon …

Degenhardt: Sie sprachen – Entschuldigung, Sie sprachen von Ungleichheit und sozialen Gegensätzen. Unter den Randalierern auf der Insel waren aber – um es mal so zu sagen – nicht nur Vertreter des Prekariats!

Schroedter: Aber diese Perspektivlosigkeit für Jugendliche bei einer 20-prozentigen Arbeitslosigkeit ist aus meiner Sicht der zentralen Grund für diese Unruhen.

Degenhardt: Diese Ausnahmesituation oder besser gesagt diese Gegensätze, die Sie beschrieben haben, die gibt es aber nun nicht nur im Vereinigten Königreich. Kann sich London also anderswo wiederholen? Zum Beispiel in Madrid, in Spanien; denn die spanischen Jugendlichen leiden besonders unter der Jugendarbeitslosigkeit!

Schroedter: Ja, das ist so, dass in den südeuropäischen Ländern, dort wo die Staatskrise auch besonders groß ist – und das ist genau der Unterschied auch zu Großbritannien –, die Jugendarbeitslosigkeit weitaus größer ist – in Spanien fast jeder Zweite –, und da ist es aus meiner Sicht aber etwas anders. Da ist es wirklich so, dass die Staatsverschuldung dazu geführt hat, dass es massive Einschnitte gab in den sozialen Bereichen – das heißt, dort gab es die größten Kürzungen –, und das hat das besonders verstärkt. Und man erlebt auch die Art und Weise, die ist da anders, Jugend hat dort auch keine Perspektive, sie ist eigentlich das Gesicht der Krise, wenn man so will, in diesen Staaten, und die sind dort auch auf die Straße gegangen. Wir haben das ja erlebt, die Besetzung der Plätze in Spanien. Das ist eine andere Art von Protest, und das hat unmittelbar damit zu tun, dass es diese Staatsverschuldung gibt, und dass die Gruppe der Jugendlichen besonders davon betroffen ist. In London haben die sozialen Einschnitte politisches System. Und das ist …

Degenhardt: Das Problem ist ja auch in Spanien speziell …

Schroedter: … schon seit Thatcher.

Degenhardt:Das Problem in Spanien ist ja speziell auch, dass die gut ausgebildeten Menschen keine Beschäftigung finden. Das macht es ja …

Schroedter: Genau. Jeder zweite Jugendliche!

Degenhardt: … besonders bedenklich. Wie können Sie denn den jungen Leuten dort Mut machen?

Schroedter: Es wird überlegt, ihnen Mut zu machen, zu wandern in der Europäischen Union, sich Arbeitsplätze zu suchen, das wird auch verstärkt gemacht in den Ländern. Aber letztendlich ist es auch eine Aufgabe von der Europäischen Union, den Ländern zu helfen, die Krise zu bekämpfen und damit Investitionen zum Beispiel durch die europäischen Strukturfonds in den Ländern zu verstärken. Da haben wir jetzt für Griechenland versucht, eine Möglichkeit zu schaffen, indem wir den Teil, den das Land selber gibt, gestreckt, oder zumindest er soll gestreckt werden. Das ist sehr, sehr schwierig, weil andere EU-Länder nicht wollen, dass es solche Ausnahmen gibt. Das war der Vorschlag von Kommissionspräsident Barroso, den ich sehr unterstützt habe, weil Direktinvestitionen schaffen Arbeitsplätze. Das sind die Probleme, die wir in Südeuropa haben. Und dort sind wir der Meinung, dass das, gerade die Krise zu bekämpfen, auch den Jugendlichen hilft. In London ist es vor allen Dingen das britische System, was unter Cameron noch massive Einschnitte im sozialen Bereich geschaffen hat, wo dort besonders gekürzt wird, obwohl Geld im Land vorhanden ist.

Degenhardt: Das ist die Frage, wir haben jetzt mehrfach von der Krise gesprochen – von der Schuldenkrise, und vielfach ist vom Sparen die Rede. Darf man den Jugend- und Bildungsbereich davon ausnehmen?

Schroedter: Aus meiner Sicht sollte man ihn davon ausnehmen, weil es die Zukunft ist. Das ist meine ganz persönliche Sicht. Übrigens betrifft das auch Deutschland. Ich bin auch der Meinung, dass der Sparbereich in dem Bereich ausgenommen werden sollte, weil wir sonst in solche Katastrophen laufen und weil wir ja diese jungen Menschen brauchen! Und wir müssen ihnen eine Perspektive geben, weil sie tragen ja in Zukunft die Gesellschaft und unser Land, und deswegen müssen wir in sie investieren. Und wenn wir die Entscheidung fällen, sollen wir in die Straße investieren, sollen wir in Jugendliche investieren, dass wir dann in die Jugendlichen investieren. Dafür bin ich seit Langem!

Degenhardt: Deutschland, Frau Schroedter, scheint ja so ein bisschen eine Insel der Glückseligen zu sein, aber wahrscheinlich täuscht das. Aus Ihrer Sicht: Wie lebt es sich als junger Mensch zwischen Rhein und Oder – besser als in Spanien?

Schroedter: Deutschland hat eine der geringsten Jugendarbeitslosigkeiten der Europäischen Union. Deutschland ist ein Land, was von der Krise nicht betroffen ist, das ist so. Aber wir sollten lernen aus diesen Situationen, und wir sollten sagen, dass Investitionen in gleiche Bildungschancen auch ein Bildungssystem, was jedem und jeder die Möglichkeit gibt, aus seiner sozialen Situation selbst sich herauszuarbeiten. Das sollten wir für uns anlegen, da haben wir in Deutschland auch große Defizite!

Degenhardt: Was meinen Sie denn, oder wen meinen Sie denn mit wir?

Schroedter: Mit wir meine ich politisch Verantwortliche, …

Degenhardt: … also schwarzgelb ganz konkret in Berlin?

Schroedter: … ganz konkret in Berlin, und wir sehen ja auch, dass in den rotgrünen Ländern aktiv Vorschläge gemacht werden und das Bildungssystem verändert wird, sodass es für jedes Kind eine gleiche Chance gibt, eben studieren zu können, und das sind die richtigen Ansätze. Und da muss Geld investiert werden! Ich erinnere an das, was in Baden-Württemberg das neue Programm ist von dem Ministerpräsidenten Kretschmann, der ganz klar sagt: Wir müssen unsere Steuergelder genau dort reinsetzen! Und das ist genau der richtige Ansatz.

Degenhardt: Das war Elisabeth Schroedter. Sie sitzt für Bündnis 90/die Grünen im Europa-Parlament und ist dort stellvertretende Vorsitzende im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Schroedter!

Degenhardt: Ja, vielen Dank, Ihnen auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Das vollständige Gespräch mit Elisabeth Schroedter können Sie in unserem Audio-on-Demand-Angebot bis zum 15. Januar 2012 als MP3-Audio hören.
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