Auf der Suche nach der Geschichte

Von Tobias Wenzel · 07.02.2011
Félix Bruzzone gilt als eine der größten literarischen Nachwuchshoffnungen Argentiniens. Sein Erzählband "76" ist nun auf Deutsch erschienen. 1976, das Jahr, in dem die Militärdiktatur begann, ist für ihn auch ein persönliches Jahr des Schreckens.
Ein Haus mit Garten 30 Kilometer von Buenos Aires entfernt. Félix Bruzzone - schlank, kurze Hose, gestreiftes T-Shirt, schwarze Locken - steht am Rand seines Swimmingpools, hat eine Pumpe angeworfen und hält einen Teleskopstiel ins Wasser. Ein dicker blauer Plastikschlauch ist mit dem Stiel verbunden und mündet in die surrende Pumpe.

"Jetzt warte ich darauf, dass die Pumpe richtig Saugkraft bekommt. So, jetzt müsste es so weit sein. Funktioniert wie ein Staubsauger, der den Dreck vom Boden des Pools aufnimmt und ihn dann heraussaugt."

Und tatsächlich entstehen dort, wo der Saugkopf am algengrünen Grund entlanggleitet, hellblaue saubere Streifen. Heute reinigt Félix Bruzzone seinen eigenen Pool, sonst täglich 20 Poolanlagen in der Umgebung. Denn das ist sein Broterwerbsberuf. Der 34-jährige Autor kann nämlich noch nicht von seinem kleinen eigenen Verlag oder vom Schreiben leben. Seine Bücher werden von der Kritik gefeiert, erreichen aber keine hohen Auflagen. Aber Bruzzone mag die Tätigkeit am Pool.

"Bei dieser Arbeit ist mein Kopf frei. Ich muss an nichts denken. Es ist eine freie Arbeit an der freien Luft, frei auch deshalb, weil der Geist ruhig ist."

Ruhig ist Félix Bruzzone auch, wenn ihn sein kleiner Sohn ruft. Ruhig und liebevoll. Sein Sohn hat Vorrang vor dem Poolreinigen. In seinem zweiten Roman hat Bruzzone einen Poolreiniger zur Hauptfigur gemacht. Auch der fiktive Mota aus der Erzählung "Unimog" hat ein Reinigungsunternehmen. Und auch er leidet wie Bruzzone unter dem Verschwinden seines Vaters. Die abwesenden Eltern - es ist das melancholische Leitmotiv in Bruzzones Erzählband "76" und auch zentrales Thema seines ersten Romans "Los topos" - "Die Maulwürfe".

Drei Monate vor seiner Geburt im Jahr 1976 wird Félix Bruzzones' Vater verhaftet, drei Monate nach seiner Geburt verschwindet seine Mutter, wird ins Militärgelände Campo de Mayo verschleppt. Sind seine Eltern betäubt und dann aus Flugzeugen über dem Atlantik ins Meer geworfen worden, wie es das Regime mit Tausenden anderen Argentiniern gemacht hat? Félix Bruzzone weiß es nicht. Aber er stellt es sich manchmal vor. Vielleicht auch in dem Moment, in dem er mit seinem Auto quer durch das grüne Militärgelände Campo de Mayo fährt. Plötzlich deutet er mit dem Finger auf ein Gebäude am Straßenrand:

"Das da ist die Kommandozentrale 601. Und dahinter gibt es einen kleinen Weg, der zum Geheimzentrum führte, einem sehr abgelegenen Ort."

Das Geheimzentrum, im das auch seine Mutter gebracht wurde, bevor sie für immer verschwand. Bruzzone wuchs in Buenos Aires bei seiner Großmutter auf. Als er acht Jahre alt war, erzählte sie ihm vom Verschwinden seiner Eltern. Erst 2003 erfuhren Félix Bruzzone und seine Verwandten, dass die Mutter zuletzt vor dem Militärgelände Campo de Mayo gesehen worden war. Da hatten Félix Bruzzone und seine Frau schon damit begonnen, nur vier Blöcke von der Militäranlage entfernt, ein Haus zu bauen. Zufall oder intuitive Annäherung an die eigene Mutter? Irgendetwas habe das schon zu bedeuten, meint Félix Bruzzone. Waren ihm die Eltern, gerade weil er sie nicht kennengelernt hat, besonders nah?

"Ich hatte ja nie eine Beziehung zu ihnen. Dafür habe ich ein ungewöhnlich mysteriöses Bild von ihnen, das mich zu einer Suche antreibt. Suche nach der Geschichte meiner Eltern und mir. Geschichte, aber keine Beziehung. Die haben wir ja leider nie gehabt. Und das macht mich traurig. Aus Erzählungen weiß ich natürlich etwas über sie. Aber der Alltag, mit ihnen zu essen, zu sprechen, sie etwas zu fragen, das ist eben nicht möglich. So stelle ich mir stattdessen selbst Fragen, die meine Eltern betreffen, um das Bild von ihnen am Leben zu halten."

Andere würden auf einen Friedhof gehen, um sich an ihre verstorbenen Eltern zu erinnern. Andere.

"Ich kann zu keinem Grab gehen, um mich dort an meine Eltern zu erinnern. Aber in gewisser Weise ruft mich dieses Grab."

Und das spürt man in Félix Bruzzones sprachlich herausragenden Erzählungen und Romanen. Bruzzone gilt vielen als der beste Nachwuchsautor seines Landes. Auch wenn er das nie von sich selbst behaupten würde. Als er im Herbst 2010 erfuhr, dass er in Berlin den Anna-Seghers-Preis verliehen bekommt, war er sprachlos:

"Ich wusste nicht mal, dass es diesen Preis gibt. Und als ich eine E-Mail bekam, in der man mich fragte, ob ich den Preis annehme, dachte ich: Da nimmt mich jemand auf den Arm! Ich hätte nie im Leben damit gerechnet, dass ich irgendeinen Preis von irgendjemandem irgendwo auf Welt bekommen könnte, nicht einmal in meinem eigenen Haus."

"Es besteht auch keine Gefahr, dass ihm die Anerkennung von Kritikern und Lesern zu Kopf steigen könnte. Denn Félix Bruzzones Frau interessiert sich nicht für Literatur, liest zwar seine eigenen Bücher ihm zuliebe, holt ihn aber ganz schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Zum Beispiel, wenn es darum geht, endlich mal wieder den eigenen Swimmingpool zu reinigen."