Auf den Spuren des Lyrik-Kubismus

20.06.2013
Una Pfau übersetzt seit Jahrzehnten Werke der französischen Moderne ins Deutsche. Nun hat sie selbst ein Buch geschrieben, in dem sie anschaulich die Stationen kubistischer Künstler nachzeichnet und zeigt, wo sie Spuren hinterlassen haben.
Sie waren jung, arm, ehrgeizig, und bildeten eine erste, große WG auf dem Montmartre: Maler, Schriftsteller, Schauspielerinnen, Prostituierte. Man feierte – das Petroleum war aus Straßenlaternen geklaut - diskutierte, trank, arbeitete zusammen. Sie kamen aus der Provinz oder aus anderen Ländern, der Pole Guillaume Apollinaire, der Bretone Max Jacob, Juan Gris aus Madrid. Den Ton gab Pablo Picasso an, der 1903 aus Spanien gekommen war und mit einem einzigen Bild die Kunstgeschichte auf den Kopf stellte: Frauen, deren Brüste und Rücken zugleich, deren Gesichter in Profil und Vorderansicht abgebildet sind.

Mit den"Demoiselles d’Avignon", die alle bisher gültigen perspektivischen Gesetze aufheben, beginnt eine neue Zeitrechnung in der Malerei. Der Kubismus, der wie ein Kritiker 1908 schrieb, "alles reduziere, Landschaften, Figur, Häuser auf geometrische Schemata, auf Kuben."
Das Wort machte schnell die Runde. Und schnell fand die neue Richtung zahllose Nachahmer. Zuerst in Picassos Mitbewohner Georges Braque. In einem produktiven Wettlauf jagten sie einander die Ideen ab, inspirierten sich und kreierten nebenbei eine neue Mode - wie die Flugpioniere der Zeit trugen sie rund um die Uhr blaue Overalls.

Während Picasso die Collage erfand, indem er in ein Stilleben mit Zitrone, Auster, Pfeife ein Stück Zeitung samt Öltuch leimte, malte Braque einen Nagel mit seinem Schatten auf den oberen Bildrand und zeigte damit, dass die Leinwand nur eine bemalte Fläche ist.

Una Pfau, die seit Jahrzehnten Werke der französischen Moderne ins Deutsche übersetzt, zeichnet anschaulich die Stationen jener Bewegung nach, und sie folgt den Spuren, die der Kubismus vor allem in der Lyrik hinterlassen hat, bei Apollinaire, Blaise Cendrars etwa. Wie in der Malerei, die gleichzeitig die Bildgegenstände aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, macht sie auch in der Poesie Techniken aus, die nach dem Prinzip des Collagierens und der Simultaneität verfahren.

Kalligramme und Bildgedichte kommen in Mode, in denen Buchstaben und Worte eine Vase etwa, ein Pferd oder wie bei Apollinaire den Eiffelturm nachzeichnen. Cocteau, der jüngste unter den Dichtern, übersetzt den Rhythmus des Ragtime in die Verse des Langgedichts "Cap de Bonne-Espérance". Oder Gertrude Stein, eine Picasso-Afficionada der ersten Stunde, setzt in ihrem antipsychologischen Roman "The Making of Americans" auf das Prinzip der variierenden Wiederholung,

Neben kompletten Gedichten, Auszügen aus Tagebüchern und Memoiren, zitiert die Autorin ausführlich aus Daniel-Henry Kahnweilers Chronik des Kubismus. Der deutsche Kunsthändler, in dessen Galerie die kubistischen Maler ihre ersten Erfolge feierten, ist ein Kronzeuge des Pariser Kunstbetriebs der 1910er-Jahre ebenso wie Fernande Olivier, damals Picassos Lebensgefährtin. Deren Erinnerungen versehen das Buch mit kräftigen Farben.

Auch wenn die kubistische Phase für die meisten Protagonisten, wie Pfau zeigt, nur ein Durchgangsstadium war, so ist ihr europaweiter Einfluss unverkennbar: auf die Surrealistentruppe um André Breton, Dada in Berlin oder die russischen Konstruktivisten um Malewitsch und Majakowski. Dass sich ihre Spuren bis in die 1980er-Jahre verfolgen lassen, weist sie schlüssig nach, bis zur Wiener Schule Ernst Jandls – und, so wäre zu ergänzen, bis zum Hip-Hop und dem Rap unserer Tage.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Una Pfau: "Paris. Die kubistischen Jahre"
Matthes & Seitz, Berlin 2013
414 Seiten 39,90 Euro
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