Architektur und Geschichtsraub

Von Reinhard Knodt · 26.06.2008
Wer sich die Mühe macht, die Argumente um das öffentliche Bauen in Deutschland und vor allem in Berlin zu durchleuchten, entdeckt unter der Oberfläche der Tagesstreitigkeiten, ja selbst noch im Neuentwurf der Gebührenordnung des deutschen Architektenbundes, den Gegensatz zweier politischer Grundrechte.
Das eine könnte man als "Recht auf Erbe" bezeichnen, jenes Erbe, ohne das gültiges, sinnerfülltes politisches Leben nicht denkbar ist. Es betrifft den Erhalt von historischen Stätten, die Pflege historischer Stadträume und den Schutz architektonischer Leistungen der Vergangenheit einer diesbezüglich wahrhaft schwer gebeutelten Nation. Das andere ist ein Freiheitsrecht, das Recht auf Entfaltung und mithin Gestaltung des Politischen im öffentlichen Raum für die Zukunft.

Architektur und der zeitgenössische Baudiskurs stehen zwischen diesen beiden Polen und man kann schlecht sagen, welcher prinzipiell wichtiger ist. Umso erstaunlicher sind die Einseitigkeiten. Da liest man in einem Leitartikel des Berliner Tagesspiegel, es scheine, dass die Berliner "im Herzen ihrer Stadt ... vor allem Vergangenheit wollen: Kandelaber statt Peitschenmasten, Stuck statt Design" und lieber "barocke Reminiszenz" statt "Townhouses aus Glas, Farbe und Stahl".

Es schwingt unüberhörbar Ironie mit, so als wäre ausgemacht, wo das Wünschenswerte liegt. Ist es das aber? Ist das Recht auf kulturellen Erhalt und Rekonstruktion des Zerstörten wirklich das kleinere Recht gegenüber dem auf modernes Design und stuckbefreite Fassaden? Wohl kaum! Wer ehrlich ist, muss sogar zugeben, dass das Recht auf Erinnerung, sinnliche Erfahrbarkeit der historischen Wurzeln und Geschichte eines Landes an ganz bestimmten Orten gewiss höher steht als alles andere und daher auch mit einem höheren Recht eingefordert wird.

Das Argument, die Forderung nach Erhalt und Rekonstruktion des Gewesenen deute auf eine Bevölkerung als Ansammlung Unverständiger, die - angeführt von retro-verliebten Bildungsbürgern - am Überkommenen festhielten, ist ausgesprochen oberflächlich, wenn nicht gar demokratiefeindlich. Vor allem missdeutet es die öffentliche Geduld, mit der man hippe Avantgardisten an Kulturdenkmälern doch immer wieder herumexperimentieren lässt, als Lernfähigkeit oder gar nachträgliche Zustimmung der Bevölkerung, was ganz und gar nicht zutreffen muss. "Das Prinzip der Politik ist Partizipation", sagt der Humboldt-Philosoph Volker Gerhardt. Wenn die Masse ihr Recht auf den Erhalt ihres kulturellen Erbes immer wieder als das bloße Wünschen Unverständiger konterkariert sieht, braucht man sich über den grassierenden Mangel an Partizipation eigentlich nicht wundern und die Architektur entwickelt sich auf diese Weise zu einem Verfahren des Geschichtsraubes, was auch nicht im Interesse der Architekten liegt!

Einer der oft gescholtenen Bildungsbürger hat nun öffentlich Stellung gegen den geplanten kompletten Umbau der Berliner Staatsoper genommen. "Verschont die Lindenoper!", forderte Ex-Festspielchef Ulrich Eckardt und mahnte "vernunftgemäßes Handeln" und "Rücksicht auf historisches Erbe" an. Zum Glück!, muss man sagen. Die Oper ist zwar kein echter Knobelsdorff, sondern ein rekonstruierter. Doch - und das ist das schlagende Argument Eckardts: "Sie ist attraktiv, weil sie noch so aussieht, wie wir sie nach der Vereinigung der Doppelstadt als Vermächtnis übernommen haben." Mit anderen Worten: Sie hilft, gerade weil sie schon älter ist, das untergründige, feine Netz der kulturellen Erfahrung anzureichern, das ein Volk braucht, möchte es nicht ständig heimatlos zwischen Schildern umherirren, auf denen alle paar Jahre "Frisch gestrichen" steht.

Berlin ist schon seit dem 19. Jahrhundert immer wieder der Un-Ort des hektischen Wechsels, des Neubaus und des Ausradierens irgendeiner vorgeblich peinlichen Vergangenheit gewesen. Das In-Ruhe-Lassen seiner besseren Leistungen und die Rekonstruktion jener Zentren, aus denen die politische Kultur hierzulande lebt, wäre eine neue Tugend, die aber schleunigst zu lernen ist, weil sie nämlich zwei Vorteile hätte: die Beförderung von Partizipation einerseits und die Verhinderung von Radikalität nach dem Motto, wir machen alles neu. Man kann nicht alles neu machen im politischen Leben, außer man begeht Verbrechen, größere oder kleinere - das ist die Lehre, die die Architektur enthält.

Im eben verschickten Entwurf zur neuen Gebührenordnung des Bundes deutscher Architekten wurden nun übrigens auch die Honorarerhöhung und "Zuschläge für Erweiterungen, Umbauten und Umnutzungen" bereits bestehender Gebäude vorgesehen. Architekten, so scheint es, werden in Zukunft offenbar keine Totalneubauten in altes Kulturgut pflanzen müssen, nur um auf ihre Rechnung zu kommen. An solch schnöden Dingen hängen also oft die hehren Argumente, und wir dürfen für die Zukunft hoffen. Die Front gegen das totale Rekonstruktionsverbot der zeitgenössischen Architektur beginnt zu wanken. Man stellt zumindest schon mal die Gebührenordnung um.


Reinhard Knodt, geboren 1951 in Dinkelsbühl, Musikausbildung, Studium der Philosophie (Gadamer, Kaulbach, Riedel) in Heidelberg, Erlangen und Trinity College Dublin; viele Universitätsengagements in Europa und den USA (Collège International Paris, New School New York, Penn-State-University, KH Kassel, HDK Berlin u.a.). Herausgeber der Nürnberger Blätter, Rundfunkautor, freischaffend seit 1992. Begründung der Nürnberger Autorengespräche zusammen mit Peter Horst Neumann. Reinhard Knodt, der mehrere Preise erhielt, verfaßte Essays, Kritiken (Architektur, bildende Kunst) und Vorträge sowie über 50 Hörspiele, Hörbilder und Stundensendungen und Aufsätze, Kurzgeschichten, Essays und Kritiken. Reinhard Knodt lehrt seit 2005 an der UdK Berlin Kunstphilosophie. 2007 erhielt er von der bayerischen Akademie der Künste den Friedrich Baur Preis für Literatur zugesprochen.