Aktivist mit großem Herzen

Von Kristin Hendinger |
Juliano Mer Khamis ist Schauspieler, Regisseur, Theaterpädagoge und auch Seelenheiler. Vor vier Jahren gründete er das Freedom Theatre. Es ist eine kulturelle Oase im Flüchtlingslager der palästinensischen Stadt Jenin. Juliano Mer Khamsi und seine Studenten sind in diesen Tagen auf Deutschlandtour.
Freiheit, das ist es, was sich die Kinder des Flüchtlingslagers in der palästinensischen Stadt Jenin wünschen. 5000 Kinder und Jugendliche wachsen hier zwischen Aggression, Gewalt und Unterdrückung auf. Verstecken spielen? Auf den Straßen tollen? Unbeschwert zur Schule gehen? Sie wissen nicht, wie sich das anfühlt. Einer, der ihnen ein Stück Kindheit zurückgibt, ist Juliano Mer Khamis. Er ist der Leiter des Veranstaltungszentrums und Theaters "The Freedom Theatre". Zusammen mit Freunden und Kollegen holt er die Kinder von der Straße.

Juliano: "Um mit dem täglichen Leben in Jenin fertig zu werden, musst du dich gefühlsmäßig selbst töten, weil du sonst nicht klar kommst mit so viel Tod, Armut und Leid, ohne dass du innerlich abstumpfst. Die Kinder waren tot, was ihre Gefühlswelt betraf. Und sie zurückzuholen, Gefühle wieder zuzulassen, war ein schwieriges Unterfangen."

Das Freedom Theatre ist eine kleine kulturelle und therapeutische Insel. Mit Kino, Literatur und Schauspielerei lässt Juliano Kinder und Jugendliche den brutalen Alltag verarbeiten und vergessen. Neben dem Theaterspiel für die Jüngsten, hat Juliano vor einem Jahr die Schauspielschule gegründet. Mit 14 Studenten aus dem ersten Studienjahr tourt er gerade durch Deutschland. Das selbst geschriebene Stück Fragments of Palestine spiegelt Reflexionen des Lebens und des Alltags dieser Studenten wider.

Die erste Szene: Eine Hochzeit. Männer tanzen ausgelassen. Frauen kommen hinzu, feiern mit. Plötzlich Schritte von Soldaten. Und gleich darauf stampft die israelische Besatzungsmacht die Hochzeitsgäste zu Tode.

Juliano: "Das Stück zeigt ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse. Sie haben Brüder verloren, sie waren im Gefängnis, ihre Mütter und Väter wurden gedemütigt und sie haben mehr Beerdigungen besucht, als Clubs oder Kneipen."

Das Abtauchen in diesen fremden Alltag schnürt das Herz zusammen. Das Spiel der jungen Darsteller ist eindringlich - Bewegungen voller Kraft, die Gänsehaut heraufbeschwören. Eine Performance ohne Worte. Die Musik passend ausgewählt, zu der die Körper im Takt sprechen. Bilder drängen sich einem ins Hirn von Unterdrückung, Hass, Gewalt, aber auch von Hoffnung auf Frieden.

Juliano ist für die jungen Schauspieler Lehrer, Vater, Freund und Förderer zugleich. Dabei hatte er selbst keine unbeschwerte Kindheit - als Sohn einer Jüdin und eines kommunistischen Palästinensers.

Juliano: "Mein Vater war im Gefängnis als ich geboren wurde. Meine Mutter kam ins Gefängnis, nachdem ich geboren wurde. Und dann als ich 12 Jahre alt war, wurde mein Vater als Vertreter der kommunistischen Partei in Israel in die Tschechoslowakei entsandt. Das war 1968, als die Russen die Tschechoslowakei besetzten."

Es folgen Aufenthalte in Moskau, Ostberlin und Dresden. Die Familie wird überall nur geduldet. Juliano leidet darunter:

"Ich wusste nicht mehr, wer ich bin. In Moskau war ich der dreckige Jude. In Israel war ich ein dreckiger Araber."

Zurück in Israel verläuft Julianos Lebensweg so ungleichmäßig wie er begonnen hat. Er arbeitet mit seiner Mutter Arna zusammen, die im Jeniner Flüchtlingslager ein Kindertheater gründet. Sie erhält 1993 für ihre Arbeit den alternativen Nobelpreis. Als seine Mutter ein Jahr später an Krebs stirbt und das Theater von Israelis zerstört wird, verlässt er die Stadt. Er wird Schauspieler, arbeitet als Regisseur und dreht den Dokumentarfilm "Arnas Children". Dieser handelt von den Kindern und Jugendlichen, die einst das Kindertheater seiner Mutter besuchten. Einige unter ihnen wurden zu Selbstmordattentätern.

Juliano: "Als ich diesen Film machte über Arnas Kinder, über diese Gruppe und die Selbstmordattentäter, änderte sich mein Leben. Mein Ansehen litt, Menschen begannen, meine Shows zu stören, man beschimpfte mich als Terrorist."

Doch Anfeindungen und sogar Morddrohungen kriegen Juliano, den Aktivisten, nicht unter. Wachsamkeit und Stolz sprechen aus seinen braunen Augen, nicht selten Ironie aus seinen Worten. Schwarzer Pulli, schwarze Hose, schwarze Schuhe - er trägt nur Schwarz. Es ist kein Zeichen von Trauer, aber doch Ausdruck eines Seelenzustandes, das Gefühl des einstigen Identitätsverlustes.

Die Arbeit seiner Mutter setzt er heute fort. 2006 eröffnet er das Theater mit weltweiter Unterstützung wieder. Es ist ein Theater mit einer Bühne und Technik, wie es überall auf der Welt stehen könnte. Kompromisse kommen für Juliano nicht in Frage. Schließlich arbeiten hier wahre Schauspieler. Dabei ist es nicht leicht, Studenten für die Schauspielschule zu gewinnen.

Juliano: "Ein Schauspieler zu sein, ist in Palästina eine Schande. Eine Schauspielerin zu sein, wird der Prostitution gleichgesetzt. Diese Studenten sind Vorbilder. (...) Sie sind Kämpfer für eine freie Kultur. Sie schaffen einen Traum. Sie haben eine Menge Verantwortung, mehr als andere Studenten auf der Welt."

Kinder, Studenten, Kollegen und Juliano - gemeinsam kämpfen sie mit den Mitteln des Theaters für ein freies Jenin und für ein lebenswertes Miteinander zwischen Juden und Israelis. Juliano nennt das kulturelle Intifada. Das meint nichts anderes als den Widerstand, der auf Kultur und Werten basiert, auf Poesie, Musik und Theater.
Denn schließlich schlagen in Julianos Brust zwei Herzen:

"Ich glaube, dass es letzten Endes viele Kinder geben wird, die Eltern beider Nationalitäten oder Religionen haben, so wie ich. Das ist sicher ein Albtraum für einige Israelis und Palästinenser, auch zusammen zu leben in einem Staat. Aber wenn wir in Zukunft nicht fähig sind, zusammen zu leben, töten wir einander."

Service:
Juliano Mer Khamis und seine Theatergruppe? Heute Abend tritt Juliano Mer Khamis mit seinem Team in Kiel im KulturForum in der Stadtgalerie auf. Spätere Auftritte noch in Braunschweig, Tübingen, Leipzig, und am Samstag, den 31.10. sowie am 1.11. kann man ihn auch in Berlin kennen lernen. Hier tritt er in der Schaubühne am Lehniner Platz auf.