Aktionismus schafft nicht mehr Bildung

Von Jürgen Kaube |
Bildung ist ein großes Wort. Es kommt in Titeln wie "Bildungsgipfel" oder "Bildungsrepublik Deutschland" vor, die man in diesen Tagen öfters hört. Wenn Politiker es in den Mund nehmen, lassen sie sich zumeist gerade in der Nähe von Lehrlingen, von Hauptschülern oder von Kindergärten fotografieren. Doch was heißt "Bildung" eigentlich genau?
Nehmen wir die Politiker bei ihrem eigenen Wort. Achtzigtausend Jugendliche verlassen hierzulande in jedem Jahr die Schule ohne einen Abschluss. Der Kanzlerkandidat der SPD, Frank-Walter Steinmeier, hat soeben gesagt, das sei "kaum zu ertragen". Er forderte auf dem Sonderparteitag der Sozialdemokraten am vergangenen Wochenende, jedes Bundesland müsse verbindlich zusagen, die Zahl solcher Jugendlicher forthin in jedem Jahr um zehn Prozent zu senken.

Das klingt zustimmungspflichtig. Niemand kann etwas dagegen haben, dass mehr Schüler wenigstens den einfachsten Bildungsabschluss erreichen. Und jeder wird zustimmen: Es ist ein Skandal, wenn wir hierzulande solche Massen an Jugendlichen haben, die weder die Grundrechenarten beherrschen, noch sich in der Sprache ihres eigenen Landes zurechtfinden.

Doch an der so überaus vernünftig klingenden Forderung, die Zahl der Schulabbrecher zu reduzieren, kann man auch das ganze Dilemma ablesen, in dem unsere Bildungspolitik seit langem steckt. Denn was würde geschehen, wenn sich die Bundesländer tatsächlich auf ein solches Ziel einlassen würden? Wozu führte es, wenn sie ganz offiziell eine Reduktion des Schulabbruchs um zehn Prozent pro Jahr versprechen würden?

Die Bundesländer müssten dann in jedem Jahr nachweisen, dass bei ihnen die Zahlen der Schulabbrecher im angestrebten Umfang zurückgehen. Wie aber sollen sie einen solchen Rückgang herbeiführen? Dazu müssten sie doch mindestens wissen, woran es denn liegt, dass so viele Schüler an der Schule scheitern.

Aber schon hierüber herrscht keine Einigkeit. Denn viele Beobachter meinen, es sei umgekehrt: Nicht die Schüler scheitern für sie an den Schulen, sondern die Schulen an den Schülern. Es werde falsch unterrichtet, es gebe zu wenig Zeit, zu wenig Personal, zu wenig Fantasie für die Erziehung.

Die Lehrer hingegen erkennen den Grund für schulisches Scheitern oft weniger in der Schule als in den Voraussetzungen, unter denen Unterricht erteilt werden muss. Denn Lehrer sehen sich vielfach Kindern gegenüber, die in ihren Familien bildungsfeindlich aufwachsen: umstellt von Unterhaltungselektronik, ohne Ansprache, ohne Erziehung im engeren Sinne.

Das wiederum kann die Politik nicht leicht ändern. Den Mut dazu, die Unterhaltungselektronik durch besondere Steuern prohibitiv zu verteuern, hat sie so wenig wie das Recht, den Familien, die bildungsfeindlich erziehen, ihre Kinder wegzunehmen.

Also konzentriert sich die Politik auf das, was sie ändern kann. Das einzige verlässliche Mittel aber, um die Zahl der Bildungsabschlüsse deutlich zu erhöhen, ist: Die Schulen anzuhalten, solche Abschlüsse in der gewünschtem Größenordnung zu vergeben. Man senkt einfach die Standards. Bei den höheren Abschlüssen geschieht genau das ja schon seit Langem. Man lockert den Zusammenhang von Leistung und Zertifikat und feiert es als Bildungserfolg, wenn die Zahl der Hochschulabsolventen steigt.

Genau das wäre auch von einer Vereinbarung im Sinne Steinmeiers zu erwarten. Die Öffentlichkeit würde durch Absolventenzahlen mit dem Gefühl versorgt, die Leute seien nun gebildeter. Am Ende hätte vielleicht fast jeder einen Hauptschulabschluß. Das könnte die Bildungspolitik als Erfolg feiern. Aber eben diese Zahl der Abschlüsse hätte eventuell gar keine Aussagekraft mehr.

Mit anderen Worten: Bildung lässt sich nicht in Zertifikaten messen, sondern nur in der Anstrengung, die es kostet, sie zu erwerben. Sie lässt sich darum auch nicht durch die Höhe der Ausgaben messen, die für Kindergärten, Schulen und Hochschulen aufgewendet werden.

Politiker hingegen feiern Abschlüsse und Ausgaben als Erfolge, und ihre "Bildungsgipfel" stehen ganz im Zeichen dieser Art von Erfolgsmeldungen. Es geht um mehr Geld und um eine verbesserte Statistik. Der Zusammenhang von beidem mit Bildung ist völlig unklar.

Jürgen Kaube, geboren 1962, studierte Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Germanistik sowie Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und war Hochschulassistent für Soziologie an der Universität Bielefeld. Seit 1998 ist er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wo er für Fragen der Bildung, Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik zuständig ist.