70 Jahre Israelkritik aus Deutschland

Israel braucht keine Nachhilfe

Ein Mann mit einer israelischen Fahne steht in Berlin am Brandenburger Tor.
Israel brauche keine Nachhilfe aus Deutschland, meint der Schriftsteller Marko Marting. © dpa / picture alliance / Gero Breloer
Von Marko Martin  · 24.04.2018
Israel steht im 70. Jahr seiner staatlichen Existenz – und ist weiterhin Objekt deutscher Interpretationen, die kaum die hoch-ambivalente Realität des Landes beachten. Der Schriftsteller Marko Martin findet das unangemessen und wünscht sich mehr Empathie.
Kommt in Deutschland die Rede auf Israel, fehlt kaum je die Formel "Wir dürfen nicht vergessen". Das vorgebliche Erinnerungs-Narrativ, von Mal zu Mal routinierter heruntergespult, hat jedoch ein Pendant, das als Worthülse fast noch beliebter ist: "Gerade Israel muss jetzt ..." In dieser Perspektive ist der einst von Deutschen ins Werk gesetzte Holocaust eine Art Benimm-Dich-Schule gewesen, die überlebende Juden dazu verpflichtet, mit den Palästinensern ... Offiziell wird dieser Satz nur selten zu Ende gesprochen, doch die Insinuation steht im Raum und wird seit Jahrzehnten von hiesigen Rechten und Linken unisono weitergeführt: Israel, so die beliebte These, ist als Besatzungsmacht moralisch auch nicht besser als unsere NS-Vorfahren.
Vor diesem Hintergrund überrascht es, wie beliebt das gegenwärtige Deutschland im heutigen Israel ist und wie weiterhin Abertausende Israelis als Touristen besonders nach Berlin strömen. Ungefähr 25.000 von ihnen haben sich bereits angesiedelt. Man könnte das - gerade hier, in der einstigen Stadt der "Wannseekonferenz" - als einen immensen emotionalen Vertrauensbeweis sehen.
Dafür aber bräuchte man etwas, das hierzulande noch immer Mangelware zu sein scheint: Empathie. Man könnte berührende, nicht-kitschige Geschichten hören – etwa von Urgroßeltern, denen im letzten Moment die Flucht aus Berlin geglückt war, während nun ihre Urenkel just hier Party machen, freilich ohne die wohlfeile Illusion, damit wäre "alles wieder gut". Doch statt das unwahrscheinliche Wunder wertzuschätzen, dass die Nachkommen der Opfer und Überlebenden den Nachkommen der Täter und Mitläufer ohne jegliches Ressentiment begegnen, fahndet man unter den neu Angekommenen auf geradezu absurde Weise nach "kritischen Stimmen". Welche sich dann natürlich auch finden.

"Okkupation ist grottig, aber Tel Aviv ist fun"

Offenherzig geben viele junge Israelis zu Protokoll, wie angeödet sie sind vom korrupten Ministerpräsidenten Netanyahu und wie desaströs die fortgesetzte Besatzung des Westjordanlandes ist. Die freudige deutsche Überraschung, solche Stimmen zu hören, hat freilich etwas Unangemessenes. In der jüdischen Tradition, fortgeführt in der israelischen Gesellschaft, haben Widerspruchsgeist, angstfreie Debattenlust und Herrschaftskritik seit je eine feste Heimstatt.
Genau das macht die deutschen Mahnungen und Warnungen auch derart überflüssig: Das geographisch winzige Israel, bis auf den heutigen Tag existentiell bedroht und gleichzeitig als Besatzungsmacht in einer hoch-ambivalenten Situation, ringt und streitet seit Jahrzehnten mit sich selbst und braucht darin gewiss keine Nachhilfe, schon gar nicht aus Deutschland.
Das gilt auch für jene vermeintlich Ober-Coolen, die Tel Aviv inzwischen als Party-Ziel entdeckt haben. Am Strand, in den Clubs und Bars sieht und vor allem: hört man dann jene Hipster, die, eine Flashe Goldstar-Bier in der Hand, folgende Weisheit zum besten geben: "Okkupation ist grottig, aber Tel Aviv ist fun." Dass sie mit dieser Verkürzung gerade eines der langlebigsten Klischees der israelischen Ultrarechten bestätigen, ficht die großsprecherischen Zaungäste dabei nicht an.
Tatsächlich wird in manchen Hügel-Siedlungen im Westjordanland auf ähnlich manichäische Weise Tel Aviv ein Sonderstatus zugeschrieben: Dort lebten angeblich inmitten einer pazifistischen Spaßgesellschaft vor allem gottlos geschichtsvergessene Eskapisten. Dabei sind die offenherzigen Hedonisten von Tel Aviv alles andere als das, sondern ebenso selbstreflektierte wie wehrbereite junge Menschen. Gerade am Beispiel ihrer Existenz aber ließe sich lernen, die komplexe, konfliktuöse Demokratie Israels nicht länger mit den simplen Maßstäben des Kitschs oder des gärenden Ressentiments zu messen.



Marko Martin, Schriftsteller in Berlin, veröffentlichte u.a. einen Essayband zur israelischen Gegenwartsliteratur sowie die Hommage "Tel Aviv - Nussschale und Schatzkästchen, darin die ganze Welt" (Corso Verlag).

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