1968

Wie die Literatur von der Revolte profitierte

Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger am 28.05.1968 Veranstaltung gegen Notstandsgesetzgebung Großer Sendesaal des Hessischer Rundfunk in Frankfurt am Main
Politischer Vortrag im Jahr 1968: Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung © picture alliance / dpa / Manfred Rehm
Von Wiebke Porombka und Ulrich Rüdenauer · 27.07.2018
Der "Tod der Literatur": Dieses Schlagwort fand sich in dem berühmten Kursbuch 15. Die Aufbegehrenden von 1968 wollte dem Schreiben vor allem politische Funktion zuweisen. Die literarischen Folgen der Revolte waren aber vielseitiger.
Hans Magnus Enzensberger: "Die Kapitalisten und die Partei- und Gewerkschaftsbosse, die uns regieren, werden nicht auf uns hören."
Der Lyriker, Essayist, Zeitschriftenherausgeber und Debattenanreger Hans Magnus Enzensberger im Jahr 1968:
"Sie werden sich taubstumm stellen, genau wie de Gaulle und Pompidou, bis wir zusammen mit den Studenten und den Arbeitern auf die Straße gehen und uns ein bisschen deutlicher machen."
Martin Walser: "Ich glaube, dass die Direktheit der politischen Aktion, der Protestaktion, eine direkte Entsprechung haben muss in der literarischen Arbeit."
Der Schriftsteller Martin Walser Ende der 60er-Jahre in der Fernsehsendung "Deutsche Literatur nach 45":
"Das heißt, so wenig Fiktion in einer politischen Versammlung nötig und brauchbar ist, so wenig ist sie eigentlich auch in der Literatur nötig und brauchbar. Das ist nur eine fast schon erstorbene und verfälschende Tradition, die uns dazu zwingt, immer noch diesen Fiktionen nachzuhängen."
Der deutsche Schriftsteller Martin Walser hält bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung am 28.05.1968 im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main eine Rede. Zahlreiche prominente Vertreter von Wissenschaft und Kunst, darunter Frankfurter Professoren und der Verleger Unseld riefen bei dem Treffen vor einem geladenen Publikum zum Widerstand gegen die Notstandsgesetze auf.
Der Schriftsteller Martin Walser im Jahr 1968© picture alliance / dpa / Manfred Rehm
Peter Weiss: "Es genügt nicht nur, ein Stück zu schreiben, sondern es muss ganz konkret vorgeführt werden, sodass es dem Sinn nach verstanden werden kann, und das, liebe Genossen, machen Sie so schnell wie möglich."
Der Schriftsteller, Dramatiker und Künstler Peter Weiss in dem Fernsehfilm "Der Unzugehörige. Leben in Gegensätzen".

68 als Chiffre für die Studentenbewegung

"Seien Sie Aktivisten, gehen Sie auf die Straßen, spielen Sie, spielen Sie auf den Plätzen, spielen Sie politisches Theater, damit kommt das Theater weiter."
Der Schriftsteller, Maler und Regisseur Peter Weiss in den 60er-Jahren
Der Schriftsteller, Maler und Regisseur Peter Weiss in den 60er-Jahren© picture-alliance / dpa / Manfred Rehm
Das Jahr 1968 ist zur Chiffre für die Studentenbewegung geworden, für die Proteste gegen das Establishment, für die Forderung, sich endlich mit den Altlasten des NS-Regimes auseinandersetzen. Die Literatur blieb von dieser gesellschaftlichen Um- und Aufbruchssituation nicht unberührt.
So wollten Autoren wie Hans Magnus Enzensberger, Peter Weiss oder Martin Walser ihr Schreiben mit politischer Aktion verbinden. Vom Schreibtisch sollte ein direkter Weg auf die Straße führen – und zurück.
Worum ging es diesen und anderen Autoren? Wollten Sie die Literatur, speziell die Nachkriegsliteratur, wie sie die junge Bundesrepublik geprägt hatte, mit der Revolte 1968 zu den Akten legen?
Helmut Böttiger: "Es gibt ja dieses Pamphlet, die Literatur sei tot, Kursbuch Nummer 15. Einer der Protagonisten, Hans Magnus Enzensberger, behauptet heute, er hätte das gar nicht so gemeint. Wenn man das aber genau nachschaut, merkt man, er hat es sehr wohl so gemeint."
Sprach Enzensberger der Literatur also generell die Relevanz ab, wie es der Literaturwissenschaftler und -kritiker Helmut Böttiger interpretiert?
Helmut Böttiger: "Literatur war nicht mehr wichtig. Bis 1968 oder bis 1967, der letzten Tagung der Gruppe 47, war Literatur wichtig. Das war gesellschaftlich relevant. Nach dieser Revolte Ende der 60er-Jahre war eigentlich alles erreicht, was die Autoren der Gruppe 47 erreichen wollten, nämlich eine innenpolitische Liberalisierung, eine offenere Diskussion, ein Pluralismus."

Aufbruch zu etwas Neuem?

Doch hatte sich die Literatur damit tatsächlich erledigt? Oder markiert 1968 den Aufbruch zu etwas Neuem?
Ursula Krechel: "Die These vom Tod der Literatur ist so nicht gefallen. Im Enzensberger-Aufsatz heißt es: 'Wenn denn die Literatur als tot erklärt wird', das ist etwas vollkommen anderes."
Die 1947 geborene Ursula Krechel, die inmitten der Studentenunruhen ihre Karriere als Schriftstellerin begann, versteht den vielzitierten Essay Hans Magnus Enzensbergers auch heute noch nicht als Schlussstrich unter der Literatur:
"Die Literatur wurde immer mal wieder tot erklärt. Zehn Jahre nach dem sogenannten Tod der Literatur 1968 wurde der Autor für tot erklärt. Der Tod der Literatur ist eine Metapher. Sie kommt immer wieder. Und es scheint mir jetzt, nach 50 Jahren beim Nachlesen, doch eine sehr, sehr große Verkürzung, den 68ern oder gerade diesem Kursbuch das Schlagwort 'Tod der Literatur' vorzuwerfen. Was aber ausgeführt gesagt werden muss, bestimmte Teile der Literatur wurden großherzig auf den Müll geschmissen."
So stand der realistische Roman, die "bürgerliche Literatur", unter dem Verdacht, die bestehenden Strukturen zu stützen und sollte von neuen, wirkungsvolleren Formen abgelöst werden. Es ging also gar nicht darum, die Literatur als solche zu verabschieden. Zunächst wollten manche Autoren sie allerdings für politische Zwecke nutzen.
Was daraus folgte: Die Literatur wurde vielgestaltiger. Fakten und Fiktion wurden vermischt, Dokumentarliteratur und sozialkritische Reportagen – etwa die Bücher von Günther Wallraff oder Erika Runge – schienen das Genre der Stunde zu sein; von den alternativen Bewegungen auf der Straße holte man sich Anregungen.
Ursula Krechel: "Interessanter waren Faktografien, waren Reportagen selbstverständlich auch, auf Mauern zu schreiben, Graffiti zu schreiben. 'L'imagination au Pouvoir' - Unter dem Pflaster liegt der Strand. Das waren poetische Gesten, die absolut schlagend und unfassbar waren. Allein nicht in den Medien der bürgerlichen Gesellschaft, das heißt, das Kursbuch ist im Suhrkamp Verlag erschienen, zu veröffentlichen, sondern eben in Broschüren, auf Flugblättern, eben auf Mauern, ganz wichtig. Sprechchöre zu haben, war ja eine Art von Literarisierung."

Aufforderung zur Gesellschaftskritik

Auf ihre eigene Arbeit wirkte sich 1968 ganz konkret aus. Ursula Krechel verstand die Revolte nicht als einen Bruch mit der Literatur, sondern als eine Aufforderung, sich gesellschaftskritisch mit der Realität auseinanderzusetzen:
"In diesem System meines stillen Schreibens schlug 1968 wie eine Bombe ein. Und ich glaube, das war nicht bei mir alleine so. Für mich wurde es zum Beispiel wichtig, andere Menschen kennen zu lernen. Dass ich in eine Stadt gegangen bin, in eine Arbeiterstadt, Dortmund, um Dramaturgin zu werden, dass ich mit Unterprivilegierten, mit jungen Häftlingen gearbeitet habe, ist sicher eine Wirkung von '68. Mein eigenes Schreiben hat sich vielleicht in der Form geändert in der Zeit, die Formen sind einfacher geworden, vielleicht auch plakativer."
Das Plakative war in jenen Tagen wichtig geworden, wenn es darum ging, die Literatur zu politischen Zwecken einzusetzen. Aber vor 68, mit 68 und vor allem in den Jahren danach gab es zugleich Strömungen, die nicht leicht auf ein Schlagwort zu bringen sind, auf Begriffe wie Politisierung oder Radikalisierung. Im Gegenteil. Manche wandten sich nach der Revolte, die auch die Literatur politisiert hatte, von allzu wohlfeilen Gewissheiten wieder ab. Stichwort "Neue Subjektivität".
Die Literatur habe, schreibt der Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel, in Folge von 1968 sogar an Bewegungsfreiheit gewonnen:
"(Sie) wurde thematisch und formal vielfältiger und interessanter, insbesondere durch die Thematisierung spezifisch weiblicher Erfahrungen und durch die Zuwendung zum Alltag; sie folgte nicht mehr dem politischen Denken, sondern durchkreuzte und bereicherte es." (Helmuth Kiesel in "Protest")
So wurde das Politische in den 70er-Jahren zwar nicht aus der Literatur verbannt; aber es sei eben, so Helmuth Kiesel, um mehr als um Politik gegangen. Es ging auch wieder um Dichtung.

Einen Modernisierungsschub ausgelöst

Man könnte auch sagen: Die 68er lösten einen Modernisierungsschub aus. Auch der eigentlich bekämpfte Kapitalismus profitierte davon. Die Literatur schien sich ebenfalls den neuen Zeitumständen anzupassen, wurde moderner, beschäftigte sich nun mit Themen, die in der Luft der 70er-Jahre lagen. Peter Schneider, einer der Protagonisten der damaligen Jahre und mit seinem Roman "Lenz" einer der wichtigen Vertreter der Neuen Subjektivität, bekannte 1976 im "Literaturmagazin":
"Die spannendsten literarischen Produkte brachten in diesen Jahren diejenigen Künstler zustande, die von Anfang an sagten, dass Politik für sie kein Thema wäre. Ich habe mich also mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass man nicht zu gleicher Zeit eine politische und eine literarische Revolte anzetteln kann." (Peter Schneider, Literaturmagazin, 1976, zit. nach "Protest", 485f.)
Auch andere Autorinnen und Autoren, die in den späten 60er-Jahren mit der Revolution geliebäugelt hatten, fanden in der Folge zurück zur Literatur, weil sich politische Vereinnahmung schwerlich mit ästhetischer Freiheit vereinbaren ließ. Sie gelangten teilweise auch zu einer anderen Einschätzung ihrer einstigen Rolle. Einer der prominentesten Fälle: Hans Magnus Enzensberger.
Sein Versepos "Der Untergang der Titanic" gilt als Abgesang auf die Träume, die sich mit 1968 verbunden hatten.
"Und ich war zerstreut und blickte hinaus
über die Hafenmauer auf die Karibische See,
und da sah ich ihn, sehr viel größer
und weißer als alles Weiße, weit draußen,
ich allein sah ihn und niemand sonst,
in der dunklen Bucht, die Nacht war wolkenlos,
und das Meer schwarz und glatt wie Spiegelglas,
da sah ich den Eisberg, unerhört hoch
und kalt, wie eine kalte Fata Morgana
trieb er langsam, unwiderruflich,
weiß, auf mich zu."
(Hans Magnus Enzensberger, Der Untergang der Titanic, 1978, zit. nach "Protest", 506)

Phase der Selbstreflexivität nach 1968

Enzensbergers "Untergang der Titanic" bildet vielleicht den Höhepunkt einer Phase der Selbstreflexivität nach 1968. In Romanen und Erzählungen bilanzierten Autoren ihre eigene Rolle in der Revolte: FC Delius' in "Amerikahaus oder Der Tanz der Frauen", Uwe Timm in "Heißer Sommer" oder Bernd Cailloux' in dem erst 2005 erschienenen Roman "Das Geschäftsjahr 1968/69". Die Ereignisse wurden im Rückblick eher historisiert als verklärt. Sie wurden zu etwas Abgeschlossenem. Die Impulse von 68 waren vielleicht noch spür-, aber kaum noch lebbar. Nur in der Literatur.
Zu einem Kultbuch wurde Bernward Vespers Romanfragment "Die Reise", 1977 postum herausgegeben. "Die Reise" ist zugleich als Dokument einer wilden Zeit, Drogenrausch, Abrechnung und Geisterbeschwörung zu lesen. Kurz: ein Trip, der ins Unbewusste einer ganzen Generation vordringt. Aber zu keiner Schlussfolgerung kommt, schon deshalb, weil das Buch unvollendet geblieben ist:
"'Ich werde ein Buch schreiben', sagte ich zu Burton, 'The title of the book will be hate.' Ich hasse Dubrovnik. Ich hasse Deutschland. Ich hasse dies herumrollende Gemüse. Ich hasse Autos. Ich hasse Straßen. Ich hasse Berlin. Ich hasse Kinder. Ich hasse meinen Vater. Ich hasse alle, die mich zur Sau gemacht haben. Ich hasse meine Lehrer und so weiter. 150 – 200 Seiten. Und irgendwo, um der Dialektik genüge zu tun, ich liebe mich – aber das sollte ja erst herausgefunden werden, oder ob es günstiger war, sich nach dieser Geschichte aufzuhängen?"
Bernward Vesper, Sohn des "völkischen" Dichters Will Vesper, Lebensgefährte von Gudrun Ensslin, die zur ersten Generation der RAF gehören sollte, nahm sich 1971 das Leben. Die Konflikte der Zeit schienen mitten durch ihn hindurch gegangen zu sein.

Außenseiter und Provokateur

Vier Jahre später starb Rolf Dieter Brinkmann, der eine Außenseiterposition in der deutschsprachigen Literatur einnahm - ein Provokateur, der sich der amerikanischen Underground-Literatur verpflichtet fühlte und gegen die Theoriebeflissenheit der 68er polemisierte. Hellsichtig nahm er die Verhärtungen und Widersprüche jener Post-68er-Jahre wahr:
"jetzt bricht endlich barbarisch die verschüttete Vitalität hervor / aber die zärtlicheren wilden Gefühle, die die Gegenwart übernehmen sollten, gingen in entsetzlichem politischen Geschwätz unter / mit der Abrichtung auf Politische Fragen, sind sie alle kaputt gegangen / keine Schönheit mehr / zerredete Träume / einkasernierte Gedanken / verwaltetes Bewußtsein durch Begriffe / ein Krümel! /"
(Brinkmann, Tagebuch, zit. nach "Protest!", 400f.)
Ein wichtiger Gewährsmann für die Popfraktion unter den Schriftstellern und ein Vordenker postmoderner Literatur war der amerikanische Literaturwissenschaftler und Autor Leslie A. Fiedler. Die Unterscheidung von Unterhaltungs- und Hochkultur wollte er aufgehoben sehen. "Cross the border, close the gap" lautete bezeichnenderweise der Titel seines 1968 zunächst in Wochenzeitung "Christ und Welt" erschienenen Essays, der eine literarische Debatte auslöste:
"Die Lücke schließen, den Abgrund überbrücken, heißt auch, die Trennwände zwischen dem Wunder und dem Wahrscheinlichen, zwischen Wirklichkeit und Mythos, der Welt des Schlafzimmers, der Börse und des Märchenhaften, das so lange beim Wahn siedelte, niederzureißen."
(Leslie A. Fiedler, zit. nach "Protest", 371)

Deutscher Buchpreis für ein Kind der 68er

Der Schriftsteller Frank Witzel war Ende der 60er zu jung, um Teil einer Jugendbewegung zu sein. Doch der weltweite Protest hinterließ auch bei ihm Spuren:
"Ich bin ein absolutes Kind der 68er. Aber wahrscheinlich ein Kind, das diese ganzen Angebote, diese ganze Problematik aber auch, diese ganze Entwicklung, die tatsächlich da auf eine Art bestimmt kulminiert ist, in sich trägt und immer wieder damit auch arbeiten muss. Manchmal kommt es mir vor wie ein Ballast, auch ein Erbe, ein zweites deutsches Erbe sozusagen. Aber ich versuch, das natürlich sehr produktiv für mich einzusetzen."
Der Autor Frank Witzel im Deutschlandfunk
Frank Witzel bezeichnet sich als "absolutes Kind der 68er".© Deutschlandradio / Kerstin Janse
Frank Witzel, Jahrgang 1955, beschäftigt sich immer wieder mit der Mythenproduktion der Nachkriegszeit, insbesondere der 60er- und 70er-Jahre, mit Pop und Theorie. Die inhaltlichen und ästhetischen Impulse nicht nur der literarischen Revolte haben sich unwiderruflich in seine Bücher eingeschrieben. Etwa in Witzels 2015 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969":
"Es war zum einen natürlich ein autobiografischer Grund, dass ich in dieser Zeit doch eine Entwicklung durchgemacht hab, die mich nachhaltig geprägt hat und dass ich irgendwie drauf gestoßen bin, dass es vielleicht eine Parallele – ich möchte es erst mal so vorsichtig formulieren – in der Bundesrepublik auch gibt, also, möchte jetzt nicht direkt Pubertät sagen."
Die Pubertät lässt sich als Aufbruch lesen: Noch ist alles offen, noch trägt man keine Verantwortung, das Erleben ist von einer berauschenden Naivität, setzt Energien frei, Kreativität.
Frank Witzel: "Auf alle Fälle gab es natürlich in den 60ern, Ende der 60er oder wie wir heute über 68 reden, eine Entwicklung, eine Veränderung in der Bundesrepublik, ich glaube auch, ein anderes Selbstbewusstsein, was am Entstehen war und was natürlich nicht ohne Kämpfe abging. Und das lief so ein bisschen parallel mit meiner beginnenden Pubertät."
1968, so ließe sich der Gedanke aufgreifen, könnte man auch als Pubertät der Bundesrepublik verstehen und also vielleicht auch als Pubertät der Nachkriegs-Literatur, weil die Autorinnen und Autoren mit althergebrachten Traditionen, zugleich mit bürgerlichen Konventionen und Erzählweisen brachen. Es galt, das Randständige aufzuwerten und der BRD den Mief nicht nur unter den Talaren auszutreiben.

Das weibliche Schreiben befreit?

Vor allem feministische Positionen fanden in Folge von 1968 Gehör. So jedenfalls sieht es die Literaturwissenschaft. Markiert 1968 mithin die Befreiung des weiblichen Schreibens? Ursula Krechel:
"Das Jahr 1968 hat für das weibliche Schreiben – mit Verlaub – gar nichts bedeutet. Frauen waren selbstverständlich unter den Studenten, als Studentinnen, sie haben die Erfahrung gemacht, die sie überall in der Gesellschaft machten oder die Frauen immer wieder machen: Sie werden nicht gehört. Sie stellen etwas in den Raum, es ist, als hätten sie nicht gesprochen. Hörbar haben sie sich denn eher gemacht einige Jahre später, indem sie sich separiert haben, in der Frauenbewegung."
Ursula Krechel und viele ihrer Generationsgenossinnen haben die Proteste von 1968 nicht als Befreiung der Frau erlebt. Schon gar nicht als Emanzipationsprozess, der von männlichen Akteuren befördert wurde. Erst in den 1970er-Jahren reklamierten Schriftstellerinnen eine weibliche Perspektive auch in der Literatur, die es so zuvor noch nicht gegeben hatte.
Das Buch "Häutungen" der Schriftstellerin Verena Stefan, erschienen 1975, wurde zu einem Manifest der Frauenbewegung und zum Gegenstand feministischer Germanistikseminare. Sie thematisiert darin nicht nur das Geschlechterverhältnis und die weibliche Sexualität.
Verena Stefan beschreibt auch die bis dato blinden Flecken bei der Vermittlung weiblichen Schreibens in der Schule oder an der Universität:
"Auch von einer Virginia Woolf hatten wir nie gehört und nicht von einer Marieluise Fleißer. Ich kann mich nicht erinnern, während meiner Schulzeit je von einer farbigen Autorin gehört zu haben. Der Unterricht war klassisch. Danach, nach 1968, rief die Linke den Tod der bürgerlichen Literatur aus. Was zählte, geschah auf der Straße, in den vollen Kneipen, im Kino und in den Protestsongs. Erst 1972 begann ich wieder zu lesen. Und gemeinsam mit anderen Frauen stellte ich fest, wie ausgehungert wir waren, in welcher Mangelsituation wir lebten. Wir wollten vorkommen, als Subjekte, nicht als die Beschriebenen aus männlicher Sicht."
(Verena Stefan, Häutungen, zit. nach "Protest", 445)
Die Schriftstellerin Ursula Krechel auf der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2012 im Frankfurter Römer.
Die Schriftstellerin Ursula Krechel erzählt von den Folgen von 68 für Autorinnen.© picture alliance / dpa / Boris Roessler
Der Umbruch geschah zeitverzögert und hatte nicht zuletzt mit dem Auseinanderbrechen der zu Anfang noch homogen wirkenden 68er-Bewegung zu tun: einerseits die dogmatische Linke, die sich in K-Gruppen-Scharmützeln aufrieb oder sich radikalisierte. Andererseits diverse emanzipatorische Bewegungen, die auf ihren jeweiligen Feldern etwas erreichen wollten.

Zeitverzögerter feministischer Umbruch

Ursula Krechel: "Und aus diesem Zusammenhang entstanden dann Texte, entstanden Zeitschriften, entstanden Verlage. An diesem Prozess haben Frauen, die vor 68 veröffentlicht haben, kaum teilgenommen. Die Öffnung fand eher statt darüber, wenn ich dieses kann, wenn wir Frauen sagen, wir öffnen uns die Welt, dann öffnen wir natürlich auch die Literatur. Das war für Frauen wie mich und andere, die schon vorher lange geschrieben haben, aber natürlich als 20-jährige nicht veröffentlicht haben, etwas ganz anderes, weil das war ja wie ein Coming out: Ich schreibe. Ich bin. Ich bin wie jemand."
Betrachtet man 1968 als Pubertät der Bundesrepublik und auch als Pubertät ihrer Literatur, als einen Aufbruch also, dann werden aus den Pubertierenden, den Aufbegehrenden, die sich von ihren Vätern losgesagt haben, in den 70er-Jahren Erwachsene. Der ein paar Jahre jüngere Frank Witzel ist selbst kein 68er. Aber er kommt nicht umhin, sich mit dem für ihn noch sehr lebendigen Erbe auseinanderzusetzen.
Die literarischen Folgen von 1968 – Frauenliteratur, die Literatur aus der Peripherie, Neue Subjektivität – machten auch neue Strukturen auf dem Buchmarkt notwendig. Die großen Verlage interessierten sich für neue Schreibformen, aber erst, sobald sich eine Tendenz zum Trend gemausert hatte.
Ursula Krechel: "Der Literaturbetrieb, wie man ihn heute nicht mehr gerne nennt, oder man hat damals gesagt: Die bürgerlichen Verlage, waren permissiv, als klar war, da geschieht etwas Bedeutendes, da geschieht etwas, was vielleicht die Zukunft ist, da ist viel Power dahinter, gab es plötzlich bei Fischer die Reihe 'Die Frau in der Gesellschaft', gab es in der kleinen Edition Suhrkamp kleine Bändchen für Frauen, die mal ausprobiert worden sind. Es haben sich Frauenverlage gegründet."
Frank Witzel: "Was ja dort anfängt, ist eine Art Alternativkultur. Es gibt diese Alternativpresse, es gibt Verlage, alternative Buchläden. Man hat also ja versucht, tatsächlich eine Art Vertriebssystem, ein eigenes, aufzubauen, mit der SoVa, und vor allen Dingen natürlich mit den alternativen Buchläden, die in jeder mittelgroßen bis großen Stadt damals dann entstanden."

Alternativkultur als Nährboden für Verlagsgründungen

Die Alternativkultur, von der Frank Witzel spricht, war auch der Nährboden für einige Verlagsgründungen. So wurde 1970 der Merve Verlags mit seinem undogmatischen Theorieprogramm gegründet oder vier Jahre später die Edition Nautilus mit anarchistischen und dadaistischen Schriftreihen. Auch der Verlag Das Wunderhorn, der sich aus der Heidelberger Alternativszene heraus entwickelt hatte und großes Interesse an Dichtung zeigte, stammt aus dieser Zeit. Verlagsgründer Manfred Metzner erinnert sich:
"Wir waren eigentlich 1978 dann mit Wunderhorn der erste Verlag, als Neugründung, der sich ja explizit wieder auf Literatur und Poesie berufen hat. Und gleichzeitig war eben durch diese Sponti-Bewegung und durch diese emanzipatorischen Bewegungen. Ich meine, das musst du dir ja mal vorstellen, dass die DKPisten oder die Stalinisten oder die Maoisten, was die für ein Frauenbild hatten, wie die sich Schwulen gegenüber verhalten haben. Das muss man ja alles mitdenken. Und aus unserer Bewegung, aus dieser undogmatischen linken Bewegung heraus sind ja die ganzen emanzipatorischen Bewegungen entstanden."
Die Impulse mochten aus dem Jahr 1968 stammen. Die Jahre nach 68 aber schienen den Blick noch einmal zu weiten - zumindest in der sich nicht verhärtenden Linken.
Manfred Metzner: "Ich glaube, gerade diese 1970er-Jahre sind wirklich die kreativsten Jahre des letzten Jahrhunderts gewesen, die bis heute ihre Auswirkungen haben, wenn man die kommunalen Kinos anschaut, wenn man die Stadtmagazine anschaut, wenn man die Film-Kooperativen anschaut, Verlage, alles ist in dieser Zeit ganz extrem vielfältig entstanden."
Im Bild ist der Verleger Manfred Metzner zu sehen
Verleger Manfred Metzner spricht von den 1970ern als "kreativste Jahre" des letzten Jahrhunderts.© Kai Hammer, Verlag Das Wunderhorn
Das ist eine ganz neue Lesart, denn die 70er-Jahre gelten meist als bleierne Jahre, als eine depressive Zeit, die düstere Phase des Linksterrorismus. Die gab es durchaus. Daneben aber entwickelte sich eine kulturelle Aufbruchsstimmung, die vom Schub der Revolte zwar profitierte, sehr viel stärker aber das Individuum, die Kunst, die Vielfalt in den Mittelpunkt rückte.
Ursula Krechel: "Aber die Zeit nach 68 wurde ja auch zum Teil als die Zeit der neuen Subjektivität bezeichnet, als wäre die Enttäuschung, dass es in Anführungszeichen keine 'Revolution' gab, als wäre die Auswirkung gewesen, jeder geht und schaut in seine kleine Seele. Natürlich gab es bekümmerte Seelen. Die gibt es nach jeder Bewegung oder nach jedem Aufbruch, das ist ja unvermeidlich. Aber die Offenheit der Formen, glaube ich, ist das Wichtigste, was sich seitdem gehalten hat oder auch, was nicht mehr zurückzudrehen ist."

Ein Zombie-Jahr mit Aufmärschen der Veteranen

"Das Vergangene ist nicht tot, es ist noch nicht einmal vergangen", heißt es bei William Faulkner. Auch 1968 ist so ein untotes Jahr. Durchaus ein Zombie-Jahr, wenn man sich die Jubiläumsaufmärsche der Veteranen ansieht. Weiterhin aber doch auch ein inspirierendes Ereignis, das die Geschichte der Bundesrepublik geprägt und verändert hat.
An 1968 kann man sich jedenfalls bis heute produktiv abarbeiten. Genauso viele Facetten wie diese Revolte hatte, so viele Deutungen gibt es auch. Und die Offenheit, die der kulturelle Aufbruch um 1968 mit sich brachte, kann für die Literatur bis heute weite Möglichkeitsräume erschließen.
Frank Witzel: "Für mich gibt es diese Möglichkeiten oder ich suche auch immer wieder nach diesen Möglichkeiten, auch vielleicht um ein bisschen den Geist von 68 in ein neues Leben zu überführen. Also, was dort anfing, was vielleicht dort – sehr pauschal erst mal – versucht wurde, das ist, glaub ich immer noch nicht auserzählt."
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