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Roman
Erinnerungen an den Krieg

Ein alter Mann hat beschlossen, seiner Existenz durch maßloses Trinken und Rauchen ein Ende zu setzen. Da kommt eine junge Frau von den Salomoneninseln zu ihm. Mit ihrem Erscheinen kehren die Erinnerungen zurück an eine Zeit, die die Hauptperson in Alice Greenways neuem Roman "Schmale Pfade" gern hinter sich gelassen hätte.

Von Paul Stänner | 17.08.2016
    Blick vom Flugzeug auf die Salomonen-Insel Tikopia.
    1943 lag Jim Kennoway als Vorposten auf einer abgelegenen Salomonen-Insel. (picture-alliance / dpa/dpaweb/epa afp Lepot)
    Jim Kennoway, der Protagonist in Alice Greenways Roman, ist am Ende seines Lebens. Es ist das Jahr 1973. Verbittert, verletzt, im Rollstuhl sitzend, hat er sich auf eine raue Insel vor der Küste von Maine zurückgezogen. Ein Bein hat er schon durch eine Entzündung verloren, die er mutwillig vernachlässigt hat. Er ist entschlossen, seiner Existenz durch maßloses Trinken und Rauchen ein Ende zu setzen.
    Seine Frau ist längst gestorben, seinen Sohn hat er verscheucht, seinen Bruder schon lange nicht mehr gesehen. Er ist vielen noch als bekannter Ornithologe in Erinnerung, aber in seinem früheren Museum wird schon an seinem Nachruf geschrieben. Kaum etwas könnte ihn weniger interessieren.
    Er war "wie ein alter, verletzter Hund, der im Wald nach einer vertrauten Höhle sucht", heißt es.
    Da kommt Cadillac Baketi zu ihm. Sie ist eine junge Frau von den Salomoneninseln, die an der Yale-Universität ihr Medizinstudium beginnen will.
    Ein Mensch, so schwarz wie Bootsöl
    Cadillac ist die Tochter von Tosca - und damit springt die Geschichte zurück in das Jahr 1943. Damals lag Jim Kennoway als Vorposten auf einer abgelegenen Salomonen-Insel, um für die amerikanische Marine die Bewegungen japanischer Schiffe zu beobachten. Tosca, ein 16-jähriger Junge von den Salomonen, half ihm dabei. Zusammen spähten sie feindliche Truppentransporte aus und sammelten in der übrigen Zeit wissenschaftlich interessante Vögel. Sie zogen ihnen die Haut und das Gefieder ab und stopften die Bälge aus, um sie an das Museum in New York zu schicken, in dem Kennoway vor dem Krieg gearbeitet hatte.
    Nun - 1973 - wird Cadillac die wenigen Wochen bis zum Semesterbeginn bei Kennoway verbringen, denn der Kriegskamerad ihres Vaters ist bislang ihre einzige Verbindung zu Amerika. Die Menschen auf der Insel reagieren auf ihr Erscheinen wohlwollend, aber erstaunt: "…dieses Mädchen war anders", heißt es in dem Roman."Nicht bloß schwarz, sondern pechschwarz, schwarz wie Bootsöl.", und gleich weiß der Leser, wie die Leute auf der Insel vor Maine die Welt sehen. Ein Mensch, so schwarz wie Bootsöl.
    Mit Cadillacs Erscheinen kommen die Erinnerungen zurück an die Zeit, die Kennoway gern hinter sich gelassen hätte.
    Ein prickelndes Zusammentreffen: Ein alter, verbitterter, von seinen Erlebnissen gezeichneter Mann trifft auf eine junge, optimistische Frau, die das Leben noch vor sich hat. Durch diesen Kontrast treten alle Verluste und Versäumnisse wie unter einem Vergrößerungsglas hervor. Eine ähnliche Konstellation hat Ernest Hemingway in seinem Roman "Über den Fluss und in die Wälder" benutzt. Alice Greenway spielt mit diesem literarischen Modell. Hemingway ist Kennoways Lieblingsschriftsteller. Eine Aufgabe will er noch vollenden. Auf seiner Schreibmaschine Corona 3 - es ist das gleiche Modell, das auch Hemingway benutzte - arbeitet er an den Schlusszeilen seine letzten Aufsatzes. Er will die geografische Lage der "Schatzinsel" aus Robert Louis Stevensons gleichnamigem Roman bestimmen, ein Piraten-Abenteuer-Buch, das ihn seit Kindertagen begleitet hat. Hier ist die Figur des einbeinigen Long John Silver sein Alter Ego, auch er ein verbitterter, alter Mann.
    Die Autorin ist eigens auf die Salomonen gereist
    Auf drei Zeitebenen spielt Greenways Roman - 1913, als der junge Kennoway an der Küste von Maine aufwächst, 1943 im Krieg auf den Salomoneninseln und 1973 in Kennoway letztem Stadium in seiner Zuflucht vor Maine.
    Alice Greenway, die amerikanische, im schottischen Edinburgh lebende Autorin ist eigens auf die Salomonen gereist, um die Sprache zu erleben und sich die Orte anzuschauen, an denen ihr eigener Großvater - ebenfalls ein Ornithologe - im Geheimdienst der Navy tätig war. Er hat diesen Roman inspiriert, aber der Roman ist nicht seine Biografie.
    Greenway hat das eigenwillige Pidginenglisch der Salomonen in ihren Roman übernommen und dankenswerterweise hat der Romancier und Übersetzer Klaus Modick diese Sprache im Original erhalten und dann jeweils den Satz indirekt ins Deutsche übertragen.
    "Schmale Pfade" - so heißt der Roman - ist ein Buch über Verluste. Die Verluste im Familienkreis. Der Tod seiner Frau Helen gehört dazu, die sich kurz nach Kennoways Rückkehr aus dem Krieg aus dem Leben geschieden ist. Hätte Kennoway ihren Tod verhindern können, wenn er sich nicht freiwillig zur Marine gemeldet hätte? Wenn er sie beide aus der Barbarei des Krieges herausgehalten hätte?
    "Damals - so heißt es im Roman - "kam es ihm so vor, als hätte der Krieg gar nicht aufgehört, sondern seine langen, rachgierigen Finger um die ganze Welt gelegt und tief ins Herz seiner Heimat gegriffen und auch Helen mit dieser Krankheit und diesem Schrecken infiziert."
    Dieser Krieg mit seinen "rachgierigen Fingern" hat auch Kennoway nicht ausgespart.
    Die Erinnerung an den Krieg wird Kennoway nicht mehr loslassen
    Alice Greenway greift ein wenig bekanntes Kapitel der amerikanischen Kriegsgeschichte auf. Offenbar haben in hunderten Fällen amerikanische Soldaten die skelettierten Schädel getöteter Japaner als Souvenirs nach Hause geschickt. Auch Kennoway hat den Schädel eines Japaners, den er getötet hat, präpariert - wer hätte es besser gekonnt als der Vogelpräparator? Seine Post kommt nicht an, die makabre Fracht wird entdeckt.

    Das Kriegsgerichtsverfahren gegen Kennoway wird niedergeschlagen, aber was diesen umtreibt, ist die Frage, wie schnell eine hochstehende Zivilisation auf das Niveau einer Kopfjägergesellschaft herunterkommen kam.
    Greenway geht noch einen Schritt weiter: Kennoway hat damals instinktiv das Tagebuch des japanischen Soldaten, den er getötet hat, an sich genommen. Hat es weggelegt, verborgen, auch vor sich selbst. Als er viele Jahre nach dem Krieg den Mut findet, es übersetzen zu lassen, liest es sich, als sei es seine eigene Sicht auf den Kampf im Pazifik.
    Die Erinnerung an den Krieg wird Kennoway nicht mehr loslassen. So wie sie Hemingway nicht losgelassen hat. Hemingway bleibt Kennoways Vorbild auch in der Art, wie er aus dem Leben scheidet.
    Diese vielschichtige Geschichte fesselt ihre Leser. Jedes neue Kapitel schlägt man mit Spannung auf. Man kann das Buch mehrmals lesen und immer neue Schichten und Fassetten und Anspielungen entdecken. Der jähzornige, unglückliche, scheue, ruppige Jim Kennoway ist einem am Ende sehr vertraut und auch etwas liebenswürdig geworden.
    Alice Greenway: "Schmale Pfade", Roman, Mare Verlag
    Aus dem Englischen übersetzt von Klaus Modick. 368 Seiten, 22 Euro