Der Prix Europa 2019

Klänge, Missbrauch, Pornos und Brecht

15:39 Minuten
Gruppenbild der Gewinnerinnen und Gewinner 2019
Die Gewinnerinnen und Gewinner des Prix Europa 2019 © rbb / Thomas Ernst
Von Jochen Meißner · 22.10.2019
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Im Oktober fand zum 33. Mal der Prix Europa statt: Jiří Adamek schafft mit "Ohrenspiel" ein klangfixiertes Hörstück ohne Bilder, das Züricher Ensemble "400asa" wagt sich an Brechts "Lukullus" und Gabriele Kögl und Claire Richard werfen mutige Stücke über Missbrauch und Pornografie in den Ring.
Die Zeit des Raschelns ist vorbei. Jahrzehntelang war das typische Hörspielgeräusch ein mehr oder weniger synchrones Umblättern der Manuskriptseiten, während aus den Lautsprechern ein Hörspiel aus Island oder Italien, Griechenland oder Georgien kam. Auf den Doppelseiten in Originalsprache und englischer Übersetzung konnte man sich seinen eigenen Pfad durch das Stück suchen – und manchmal musste man das auch, wenn das Skript nicht so genau mit dem Gehörten übereinstimmte, oder wenn man diese merkwürdigen Zeichen nicht verstand, aus denen sich das georgische Alphabet zusammensetzt.

პრეზიდენტის კატა
რეჟისორი - ზურაბ კანდელაკი
ხმის რეჟისორი - ბაკო ხვიჩია
მონაწილეობენ: ლევან ბერიკაშვილი, ზურაბ ყიფშიძე, ლილი ხურითი, ვახტანგ ნოზაძე, სოსო ხაინდრავა, ანა მატუაშვილი, გივი ჩუგუაშვილი, მერაბ ბრეკაშვილი, ნანა ხურითი, ნინო მენთეშაშვილი.
სინოფსისი
(Guram Odisaria: Pezidentis Kata)

The Sea
Bghazhba: "I wish I could find the shards of a jug from the times of Alexander the Great, when he smashed it upon the desert sand, in front of his soldiers. It was when they had run out of water and it was the only jug of water left. When the jug was brought to Alexander, he smashed it before his soldiers’ very eyes and spilled the water. 'I must stay thirsty, just like my soldiers.'"

Seit diesem Jahr, der 33. Auflage des Prix Europa, ist das Hörspiel papierlos geworden. Die Stapel liebevoll gelumbeckter Manuskripte und lieblos zusammengetackerter Loseblattsammlungen sind vorbei. Stattdessen wird der Text auf die große Leinwand projiziert und schnell merkt man, dass die Anforderungen an eine gute Screen-Typographie zwar andere, aber nicht minder komplexe sind. Schriftart und -schnitt, Einblendzeiten und -rhythmik, Textmenge und –geschwindigkeit müssen mit dem Sprachrhythmus korrespondieren. Anforderungen, die dem Hörspieldramaturgen eher fremd sind, obwohl man seit Jahren beim Internetprojekt radio-atlas.org sehen konnte, wie so etwas funktioniert.
"Das Ohrenspiel" von Jiří Adámek
Jiří Adámek: "Diese Radioarbeit hat zum Ziel, durch die in diesem Werk enthaltenen Sounds keinerlei visuelles Bild im Bewusstsein der Hörer zu erzeugen."
Beim ersten Hörspiel im Wettbewerb, dem tschechischen Stück "Das Ohrenspiel" von Jiří Adámek, konnte man nicht nur sehen, wie Schrift und Ton zu einer Einheit wurden, sondern auch, wie man ein Stück über die Bedingungen und Möglichkeiten akustischer Kunst macht, in dem Sprache und Ton sich gegenseitig befeuern und die Soundebene nicht nur dazu da ist, das Gesagte zu illustrieren, sondern auf es zurückzuwirken.

Auszug aus "Das Ohrenspiel" von Jiří Adámek:

"Jede Sekunde ein anderes Wort / Verfahren als Herausforderung / Jeder Moment ein neuer Anfang / Akkumulierte Ausdrücke / Zögern kommt nicht in Frage / Verantwortung übernehmen für den entstehenden Text / Teil des Radiowerks / Es gibt kein Zurück / Rhythmus / Mit großer Anstrengung die Ordnung aufrecht erhalten / Hohe Aufmerksamkeit / Pause!"

Auf leichtfüßige und selbstironische Weise setzte sich Adámek in Anschluss an den Konzeptkünstler Jiří Valoch mit den Bedingungen und den Möglichkeiten akustischer Kunst auseinander, indem er sie zeitgleich demonstrierte und reflektierte. Ein Stück, das zeigte, dass es keiner Erzählung bedarf, um ein spannendes Hörerlebnis zu schaffen.

Auszug aus "Das Ohrenspiel" von Jiří Adámek:

"Eine Frage: Bleibt ein Hörer, der der Anweisung gehorcht und das Radio abstellt dem Radiowerk treu? Oder ist der ein treuer Hörer, der der Anweisung nicht gehorcht und weiter hört? Eine Frage: Führt jede Frage zu einer anderen Frage?"

Selbst das Zitat des Leitmotivs der Komposition "The Unanswered Question" von Charles Ives - normalerweise ein Garant für ein tiefes Aufstöhnen ob dieser Einfallslosigkeit - wirkt in diesem Kontext angemessen.
"Höllenkinder" von Gabriele Kögl
Ein weiterer Grund zur schmerzhaften Lautäußerung ist es, wenn einem ein Hörspiel vorgesetzt wird, in dem es um sexuellen Missbrauch geht. Womöglich noch um Inzest in einem hinterwäldlerischen Dorf, bei dem sich auch der Pfarrer noch an dem Opfer schadlos hält. Es kann schon sehr anstrengend sein, wenn über Sexualität fast ausschließlich im Gewalt- und Missbrauchskontext geredet wird, wie in gefühlt sämtlichen deutschsprachigen oder skandinavischen Hörspielen der letzten Jahre – wenn sie sich überhaupt an das Thema herantrauen. Die Rollen von Gut und Böse, Opfer und Täter sind in der Regel von Anfang an klar verteilt und es ist nur noch die Frage, ob man eine Opfergeschichte oder ein Rape-and-Revenge-Drama machen will.
Und plötzlich kommt eine Geschichte daher, die oberflächlich alle Klischees bestätigt und dennoch anhörbar ist: "Höllenkinder" heißt der Prosatext der in Wien lebenden Grazer Autorin Gabriele Kögl, der von Elisabeth Weilenmann - besser bekannt als Elisabeth Putz – für den ORF inszeniert wurde.
Gabriele Kögl: "Inspiriert bin ich davon geworden, als ich eine Großtante gesprochen habe, und sie mir erzählt hat, dass sie im Bett ihres Vaters liegen musste, dass er sie geschlagen hat. Und ich hab dieses Schlagen als Synonym für was anderes genommen, weil sie sich nicht ausdrücken konnte und ich habe mir dann einfach vorgestellt, wie diese Geschichte wirklich gewesen sein könnte, auch mit den Geschwistern, die gestorben sind und all das. Und da habe ich mir gedacht: Ich erzähle jetzt diese Geschichte, wie ich mir vorstellen könnte, dass sie sie erzählen würde, wenn sie sie erzählen könnte."

Auszug aus "Höllenkinder" von Gabriele Kögl:

"So habe ich dem Pfarrer, so gut ich es konnte, alles erzählt. Weil er es so wollte und mir immer wieder gedroht hat,
mein Kind sonst nicht zu taufen. Ich habe dem Herrgott an ihm gezeigt, was der Vater von mir verlangt hat, und der Pfarrer hat mir dann gezeigt,
was der Vater mit mir gemacht hat und wollte immer genau wissen, ob es so gewesen ist oder anders, und ich habe es bald feucht gespürt und habe gewusst, dass der Pfarrer etwas abgelassen hat in mir, damit ich von ihm einen Ablass bekommen und er mein Kind taufen wird. Er hat mein Kind dann Gott sei Dank getauft, aber er hat mir das Versprechen abgenommen, jedes Mal zur Beichte zu kommen, wenn der Vater sich drauflegt auf mich. Und so habe ich bald ein zweites Kind bekommen."

Gabriele Kögl: "Es ist einfach sehr gut sprechbar und natürlich eine traumhafte Rolle für eine ältere Schauspielerin, wo ich glaub, dass sie sehr facettenreich was damit machen kann. Ich habe im Ohr gehabt diese ländliche Sprache, die ich nicht brechen wollte durch irgendwelche Wörter, die nicht reinpassen. Das sollte wirklich in dieser Einfachheit bleiben. Und das war für mich auch in diesem Takt, in dem die Leute reden, in diesem Rhythmus, den sie immer wiederholen und durch das Wiederholen auf das nächste kommen - das war das, was ich mir beim Schreiben gedacht hatte und war dann für mich auch spannend zu hören, was Gudrun Ritter draus gemacht hat. Und das hat noch mal eine Dimension dazubekommen für mich."
Dafür gab es verdientermaßen den Prix Europa für das beste europäische Hörspiel.
"Les chemins de désir" von Claire Richard
Den Preis für die beste europäische Hörspielserie bekam ein Stück, das ein prinzipiell positives Verhältnis zum Sex hat: In der sechsteiligen Reihe "Les chemins de désir", die Claire Richard unter der Regie von Sabine Zovighian für Arte Radio gemacht hat, geht es um die Beschreibung der pornografischen Sozialisation einer feministischen Ich-Erzählerin, gesprochen von der Autorin selbst. Die achtjährige Ich-Erzählerin entdeckt in einem Regal ihrer Großmutter einen Comic, der so ganz anders aussieht als "Tim und Struppi", "Asterix" oder "Lucky Luke". Mit 25 Jahren kann sie sich noch genau an die Stimmung erinnern, als sie erstmals einen Blick in eine ebenso gefährliche wie fesselnde Welt geworfen hat.
Claire Richard: "Ich wollte auf eine Weise über Pornos sprechen, wie es noch nicht gemacht wurde. Ich habe mich nicht darin wiedergefunden wie in den Medien oder sogar in den Wissenschaften darüber gesprochen wird. Außerdem bestand so die Möglichkeit, eine mir sehr wichtige Frage zu erforschen: Wie entdeckt man die Teile an sich, die einem selbst unbekannt sind? Und ich rede über Pornografie sowohl ganz wörtlich, als auch als Metapher dafür, wie man unentdeckte Bereiche in sich selbst enthüllen kann."
Die Titelmetapher "Les chemins de désir" spielt hier eine besondere Rolle:
Claire Richard: "Stadtplaner entdecken ab und zu Pfade, die abseits der Routen verlaufen, die abseits ihrer vorgezeichneten Routen verlaufen. Diese Linien entstehen über Monate, um nicht zu sagen Jahre, durch die wiederholten Schritte von Fußgängern, Tieren oder Radfahrern. Sie schneiden Ecken und Kanten und überqueren was immer sie wollen. Die Stadtplaner nennen sie 'chemins de désir' – 'Wunschwege'."
Auf Deutsch heißen diese Wunschwege, die Wege des Begehrens sind, "Trampelpfade". Krasser kann man die deutsch-französische Differenz in Sachen Sex kaum ins Bild heben. Wie aber geht man im akustischen Medium mit Pornografie um, die doch meist als visuelles Medium rezipiert wird?
Claire Richard: "Gute Frage. Zunächst erzählt die Serie von Episode 1 bis 6 die Geschichte, wie erotische Vorstellungen mit einem Bild beginnen bis sie im Sound enden, weil die Erzählerin im Laufe der Zeit eine Art Überdosis von dem visuellen Medium bekommt und bei Audiopornos landet, die von Amateuren gemacht werden und eine sehr berührende und unperfekte Qualität haben. So wird der Sound als das Medium der stärksten Entäußerung gefeiert. Wenn ich als Zweites über Pornografie rede, dann wie sie Fantasieräume öffnet, wie sie zur Selbstfindung beiträgt und die eigenen Begehren und Widersprüche erfahrbar macht. Der Sound als intimes Medium adressiert da direkt unser Reptilienhirn und umgeht einige der rationalen Denkmuster. Der Sound ist das beste Medium, das mir zur Verfügung stand, denn Bilder könnten zu obszön oder zu drastisch gewesen sein. Aber nur mit dem Ton waren wir in der Lage, die richtige Balance zu finden und so Räume zu erschaffen, in denen die Hörer sich in den Geschichten selbst finden konnten."
"Lukullus" von Bertolt Brecht / Digitalbühne Zürich 400asa
War sonst noch was? Natürlich gab es die immergleichen Diskussionen über das Handwerk des Hörspielmachens, die Figurenzeichnung und den Einsatz von Musik und Geräuschen. Ein Teilnehmer des Norwegischen Rundfunks beschwerte sich darüber, dass bei seinen Stücken immer nur das Sounddesign gelobt würde, ebenso wie die BBC immer nur für ihr Storytelling. Und das, obwohl beide Länder immer mit unterschiedlichen Stücken und Autoren zum Prix Europa kommen würden. Das ist zweifellos richtig, fällt aber auf ihn selbst zurück, denn sowohl in Norwegen als auch in Großbritannien scheint man bemüht zu sein, ja nicht vom eigenen Klischee abzuweichen. Nicht einmal im Traum würde den Norwegern der Gedanke in den Sinn kommen, statt ihres Highend-Sounddesigns ein Lo-Fi-Stück zu produzieren. Wie man gegen das eigene Klischee aninszeniert, konnte man in einer Produktion des Schweizer Rundfunks hören. Das Stück "Lukullus" nach dem Hörspiel "Das Verhör des Lukullus" von Bertolt Brecht, das 1940 beim Schweizer Sender Beromünster seine Ursendung hatte, wurde von der Zürcher Digitalbühne 400asa neu interpretiert. Dabei wurde nicht nur die Aufführungsgeschichte des Stückes in die Neufassung miteinbezogen, sondern gleich auch noch feministische und postkoloniale Diskurse angeflanscht. Es war das einzige Stück, das in seiner ungeschliffenen Rohheit den glattpolierten Stücken aus den anderen Dramaturgien entgegenstand.

Auszug aus "Lukullus" von Bertolt Brecht / Digitalbühne Zürich:

Werbestimme:
"Lukullus! Denkt des Unschlagbaren, denkt des Gewaltigen! Denkt der Furcht der beiden Asien. Und des Lieblings Roms und der Götter. Als er auf dem goldenen Wagen durch die Stadt fuhr, bringend euch die fremden Könige und die fremden Tiere! Elefant, Kamele und Panther, Kutschen..."

Passant:
"(schweizerdeutsch) Ou, wow so lässig, lug da!"

Experte:
"Ein mächtiger Mann, das ja ist immer auch eine Projektionsfläche. Sein Mannsein kriegt etwas Übermenschliches..."

Expertin:
"Entscheidend dabei ist ja vielleicht nicht, was man über sie redet, sondern, dass man über sie redet. Man stelle sich ein solches Militär-Defilee heute vor, wenn so ein aktueller Gewaltherrscher stürbe: Helikopter, Fliegerstaffeln…"


Auszug aus "Das Ohrenspiel" von Jiří Adámek:

"Eine Frage: Was machen wir mit einem Hörer, der sich beim Betrachten eines Bildes ertappt?

a) ihn ermahnen.

b) ihn ignorieren.

c) ihn bitten, das Radio auszuschalten."

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