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Großbritannien
Bericht beklagt verbreiteten Kindesmissbrauch

Das Thema Kindesmissbrauch schlägt seit geraumer Zeit in Großbritannien hohe Wellen. In der vergangenen Woche brachte ein neuer Bericht die Debatte weiter in Fahrt. Hinzu kommen Vorwürfe gegen Prominente und Politiker. Eine Kommission soll sich um Aufklärung bemühen, kämpft zurzeit aber vor allem mit sich selbst.

Von Jochen Spengler | 05.11.2014
    "Ich werde ständig angesprochen, wenn ich meine Schuluniform trage", erzählte ein Mädchen der Labour-Abgeordneten Ann Coffey. Die hat viele Mädchen befragt und legte einen 150-Seiten-Bericht über Kindesmissbrauch im Großraum Manchester vor. Ihre Erkenntnis: Sexuelle Ausbeutung von Kindern ist in manchen Vierteln normal geworden – befördert durch freizügige Musikvideos und Selfies. Und: Nicht einmal jede zehnte angezeigte Sexualstraftat führt zu einer Verurteilung. Verblüfft hat Ann Coffey vor allem:
    "Die Regelmäßigkeit, mit der sie von älteren Männern angemacht werden – sogar wenn sie ihre Schuluniform an haben. Die versuchen sie zu streicheln und in ihr Auto zu locken. Und wenn ich die Mädchen frage, warum habt Ihr das nicht gemeldet, heißt es: weil es so viele Männer sind."
    Meist bleibt nicht beim Streicheln, sondern Mädchen werden in Großbritannien tausendfach entführt, mit Drogen und Alkohol gefügig gemacht und vergewaltigt. Davon zeugen Vorfälle aus den vergangen Jahren im ganzen Land: in Oxford, in Rochdale und Derby, vor allem aber im nordenglischen Rotherham. Der Untersuchungsbericht, den die schottische Professorin Alexis Jay Ende August vorstellte, hat die britische Öffentlichkeit schockiert:
    "Es ist schwer, die entsetzliche Art des Missbrauchs zu beschreiben, den die jungen Opfer erlitten haben. Schon elfjährige wurden von vielen Tätern massenvergewaltigt, viele wurden in andere Städte verschleppt, misshandelt, geschlagen und eingeschüchtert, mit Benzin übergossen und bedroht, sie anzuzünden. Nach unserer konservativen Schätzung waren mindestens 1400 einzelne Kinder Opfer sexueller Ausbeutung in 16 Jahren."
    Massenvergewaltigung von Mädchen
    Meist haben sich die Täter Mädchen aus schwierigen Familienverhältnissen ausgesucht. Und nicht nur in Rotherham waren es vor allem Männergangs pakistanischer Herkunft. Eines ihrer Opfer erzählt.
    "Er hat mich wöchentlich vergewaltigt. Er hatte Kontrolle über mich und ich hatte Angst vor ihm. Nicht nur vor ihm, sondern vor der ganzen Gang. Ich musste mit seinen Cousins schlafen und jedem, der wollte. Ich war nur noch ein Objekt."
    Sozial- und Jugendämter wussten von den Verbrechen, aber sie glaubten den Berichten der Opfer nicht, unterdrückten oder ignorierten sie – oft aus Angst vor dem Rassismus-Vorwurf.
    Die pakistanischen Gemeinden stehen inzwischen unter enormen Druck in den eigenen Reihen aufzuräumen. Aber daher stammen beileibe nicht die einzigen Täter. Nach wie vor finden 90 Prozent der Vergewaltigungen in Großbritannien im familiären Umfeld statt. Und Schlagzeilen machten auch Prominente, die ihre Berühmtheit nutzten wie Jimmy Savile, der Jahrzehnte lang ungestraft weit über hundert Kinder und Jugendliche missbraucht hat. Nicht zu vergessen der ominöse Pädophilenring aus Politikern, der in den 80er Jahren sein Unwesen getrieben haben soll.
    Streit im Untersuchungspanel
    Wieso aber wurden all diese Verbrechen nicht verfolgt – wollten Teile des Establishments womöglich eigene Verwicklungen verdecken? Fragen, die ein Untersuchungspanel von acht unabhängigen Experten beantworten soll. Was aber im derzeitig aufgeheizten, mitunter hysterischen Klima der Verschwörungstheorien so leicht nicht ist.
    "Wir sind ziemlich einstimmig der Meinung, dass die jetzige Vorsitzende des Panels, Fiona Woolf, jemand ist, mit dem wir nicht in der Lage sind, zusammenzuarbeiten", donnerte Ende letzter Woche Peter Saunders, Chef eines Opferverbandes. Fiona Woolf, respektierte Ex-Bürgermeisterin der City of London wird vorgeworfen, sie sei als Nachbarin von Sir Leon Brittan mehrfach auf Dinnerparties bei ihm eingeladen gewesen. Ex-Innenminister Brittan aber wird verdächtigt, Missbrauchshinweisen vor 30 Jahren nicht entschieden genug nachgegangen zu sein.
    Fiona Woolf handelt rasch; sie ist bereits die zweite designierte Vorsitzende, die noch vor dem ersten Treffen des Expertenpanels zurücktritt, wofür sich die zuständige Innenministerin Theresa May am Montag vor dem Parlament bei den Missbrauchsopfern entschuldigt:
    "Es ist offensichtlich sehr enttäuschend, das wir immer noch keinen Vorsitzenden für das Panel haben - und deswegen möchte ich den Betroffenen sagen, dass es mir leidtut."