Freitag, 10. Mai 2024

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Studium in der Pandemie
"Sie können Wissen vermitteln, aber keine Erkenntnisse erarbeiten"

Universitäten und Studierende bräuchten dringend wieder den Präsenzbetrieb, sagte Bernhard Eitel, Universitätsrektor in Heidelberg, im Dlf. Es sei unverantwortlich, wenige Monate vor Beginn des Wintersemesters keine klaren Ausgangsbedingungen zu haben. Ein weiteres Jahr Digitallehre lehnt er ab.

Bernhard Eitel im Gespräch mit Stephanie Gebert | 29.06.2021
Der fast menschenleere Eingang der Albertus Magnus Universität zu Köln, eine Fahrradfahrerin fährt vorbei.
Studierende wie Universitäten bräuchten dringend Planungssicherheit, forderte Rektor Eitel im Dlf. (picture alliance / Geisler-Fotopress | Christoph Hardt/Geisler-Fotopress)
Nicht nur an den Schulen läuft alles auf die großen Sommerferien hinaus, auch an den Hochschulen wird langsam aber sicher die Lehre heruntergefahren – die Semesterpause steht an. Wie es danach weitergeht, ob wieder in digitaler Lehre oder doch in Präsenzveranstaltungen, ist noch ungewiss. Genau das sei ein unhaltbarer Zustand, sagen viele Hochschulrektoren, etwa in Baden-Württemberg. Sie haben ihrer Landesregierung einen Brief geschrieben und fordern: Planungssicherheit - und deshalb auch ein Impfangebot für alle Studierenden.

Stephanie Gebert: Gerade wenn es ums Impfen geht, gibt es viele Gruppen, die sich noch etwas gedulden müssen in Deutschland. Warum brauchen ausgerechnet die Studierenden Priorität?
Bernhard Eitel: Ich glaube, die Studierenden und damit auch die Universitäten brauchen Planungssicherheit für beginnende Wintersemester. Dann spielt der Zeitfaktor ja eine Rolle, wir müssen ja mit zwei Impfungen rechnen. Jetzt kommt die Urlaubszeit noch dazu, die Urlaubszeit hat in norddeutschen Bundesländern schon begonnen, in den süddeutschen geht sie dann in den August. Und darüber hinaus meine ich, dass die Studierenden eine besondere Gruppe sind, die es wert ist, dass man sich ihr endlich mal widmet. Die 18- bis 28-Jährigen sind in einer Phase, in der sie die wesentlichen Schritte für die künftige Lebensplanung unternehmen, das meine ich vom Privaten bis ins Berufliche. Auch in der Corona-Verordnung des Bundes tauchen die Hochschulen nicht auf. Ich finde das schon erstaunlich, um es mal vorsichtig auszudrücken, denn es wird immer vom Backbone des Bildungs- und Wissenschaftssystem gesprochen, und hier spielen diese Gruppen offensichtlich keine Rolle.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Gebert: Jetzt ist es so, dass Sie mit Ihrer Not und auch mit Ihren Vorschlägen sich gewandt haben inzwischen in einem Schreiben mit Ihren Kolleginnen der anderen Hochschulen an die Landesregierung. Aber es gibt offensichtlich noch keine Resonanz. Werden Sie und andere Hochschulen im Moment grundsätzlich gerne ignoriert?
Eitel: Ich glaube, man hat uns über anderthalb Jahre schlichtweg übersehen, vergessen oder ignoriert. Jetzt am Wochenende haben wir zum ersten Mal Resonanz bekommen aus dem Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg. Es kam eine E-Mail, ich habe am Sonntag eine E-Mail bekommen dankenswerterweise aus dem MWK, dass wir auf Eigenkosten auch Studierende impfen dürfen und dass man das Wintersemester doch möglichst in Präsenz gehen soll und dass man in den neuen Corona-Regeln das beginnende Wintersemester in den Blick nehmen will. Hier haben wir jetzt zum ersten Mal eine Resonanz gefunden, insofern schaue ich jetzt da einmal ein bisschen optimistisch und auch dankbar nach Stuttgart.

Regelungen wie in Restaurants oder dem öffentlichen Nahverkehr

Gebert: Mit Blick auf das Wintersemester, das Sie gerade schon angesprochen haben, sagen Sie auch, wir müssen uns von den Abstandsregeln, von 1,50 Meter, eigentlich trennen, weil sonst ist eine Rückkehr in die Hörsäle nicht möglich. Mit Blick auf die Delta-Variante könnte man ja auch fragen, ob das nicht tatsächlich fahrlässig wäre.
Ein Schild am Strand, das 1,5 Meter Abstand fordert
Virologe Stürmer - "Disziplin der Menschen, sich an die Regeln zu halten, wird weniger"
Die Corona-Regelungen in Europa seien derzeit sehr uneinheitlich, sagte der Virologe Martin Stürmer im Dlf. "Es macht herzlich wenig Sinn, uns die strengsten Regeln aufzuerlegen und um uns herum passiert wenig bis gar nichts." Im Freien könne es zwar Freiheiten geben, trotzdem sei auch da Vorsicht geboten.
Eitel: Nach allem, was wir bisher wissen, schützen die gängigen Impfstoffe ja auch vor dieser Delta-Variante. Und das heißt ja nicht, dass wir, wenn die Studierenden und Mitarbeitenden, wenn die geimpft sind, dass wir dann auf die Hygienemaßnahmen und Vorsichtsregeln verzichten würden. Es ist nur ganz schlichtweg rechnerisch so, wenn Sie bei 1,50 Meter Abstand mit jedem Seminar in einen großen Hörsaal müssen, dann reichen einfach die räumlichen Kapazitäten der Hochschulen und Universitäten nicht aus. Und deshalb muss man sagen: die Präsenz würde scheitern, wenn wir nicht Regelungen bekämen, die es uns erlauben würden, die 1,5-Meter-Abstandsregel zu unterschreiten, genauso, wie es in Restaurants oder im öffentlichen Nahverkehr möglich ist oder wenn Sie in einen Flieger einsteigen.

"Nicht im gleichen Maße forschungsorientiert"

Gebert: Eine andere Variante zu der, die Sie gerade aufgezählt haben, in der man eben nicht die 1,50 Meter Abstand verkleinern oder verringern muss, wäre die weitere Digitallehre. Sagen Sie doch noch mal ganz praktisch, wenn wir über die sprechen, die es betrifft, was würde das für Konsequenzen haben für die Studierenden, sagen wir, an Ihrer Uni, wenn sie noch mal in die Digitallehre müssten?
Eitel: Wir hätten einen weiteren Jahrgang Erstsemester, der keine Universität erleben würde. Es wäre dann im Prinzip noch mal ein ganzer Jahrgang, der sich darauf freut, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen – und praktisch kann er ihn nicht beginnen. Diese Menschen, diese jungen Leute können keine Kontakte schließen, sie lernen Universität nicht kennen. Und alle, auch die älteren Jahrgänge, haben das Problem, dass der digitale Unterricht in der Regel nicht im gleichen Maße forschungsorientiert ist wie er in Präsenz durchgeführt werden kann. Sonst wären wir ja alle im Fernunterricht. Ich erinnere immer ein bisschen daran, der Vergleich hinkt etwas, aber es wäre ein bisschen so: Mit der Einführung des Buchdrucks bei Gutenberg hat man auch nicht gesagt, jetzt kann man ja die Uni schließen, denn es gibt ja Bibliotheken. Diese Forschungsorientierung, das zeichnet universitäre Lehre aus. Die können Sie digital nicht ersetzen. Man kann das mal überbrücken für ein, zwei Semester – mit großen Defiziten, die man dann wieder aufarbeiten muss. Aber es lässt sich eben nicht aufheben. Sie können Wissen vermitteln, aber keine Erkenntnisse erarbeiten. Und da liegt eigentlich der springende Punkt, die Aufgabe der Universitäten. Deshalb brauchen wir dringend die Präsenz, sonst geht unser Proprium verloren, das, was Universität ausmacht.

"Wir brauchen jetzt ganz schnell Planungssicherheit"

Gebert: Und Ihnen rennt ein wenig die Zeit davon, Sie haben es gerade schon angesprochen. Wie schnell müsste das jetzt passieren aus Ihrer Sicht? Wir müssen jetzt die Semesterpause benutzen.
Eitel: Wir brauchen jetzt ganz schnell Planungssicherheit. Wir sind ja auch dabei, das Wintersemester vorzubereiten, wir haben jetzt noch den Urlaub vor uns, da läuft auch viel, da laufen die Immatrikulationen, die Erstsemester müssen wissen, ob sie herkommen können, ob sie hier eine Studentenbude irgendwo sich besorgen, eine Unterkunft, oder ob sie zu Hause bei Mama und Papa sitzen bleiben sollen. Das sind ja alles Entscheidungen, die kosten auch Geld. Ich finde es unverantwortlich in der jetzigen Lage wenige Monate vor Beginn des Wintersemesters keine klaren Ausgangsbedingungen zu haben. Ich muss noch mal sagen, das Land Baden-Württemberg bewegt sich langsam, aber ich sehe es eigentlich noch nicht flächendeckend. Wir brauchen einfach eine ganz klare Ansage, was los ist, weil sonst, wie gesagt, haben wir Riesenprobleme – nicht nur, was den Betrieb angeht, sondern auch was die Psyche unserer Studierenden angeht, auch der neuen.
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